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Erstellt von Redaktion am Dienstag 2. Oktober 2018

Die Republik nach Chemnitz

Karl-Marx-Denkmal - Aktionsbündnis Chemnitz ist weder grau noch braun (2).JPG

von Albrecht von Lucke

Die Entfernung zwischen Chemnitz und Weimar beträgt, gestern wie heute, 113,5 Kilometer, Luftlinie. Doch nach den jüngsten Ereignissen, in Chemnitz, aber mit der Causa Maaßen auch in Berlin, ist uns die gescheiterte Weimarer Republik politisch ein gutes Stück nähergekommen. Was wir derzeit erleben, ist ein Zusammenspiel von Rechtsradikalen auf der Straße und im Parlament mit rechten Hardlinern in den Sicherheitsorganen und in einem Teil der Medien.

In Chemnitz gelang es einer digital mobilisierten, hoch organisierten Rechten, in einer deutschen Großstadt mit nationalsozialistischen Sprüchen („Wir sind die Fans, Adolf Hitler Hooligans“) völlig ungehindert aufzumarschieren, Ausländer und Andersdenkende zu jagen[1]und dabei wiederholt den Hitlergruß zu zeigen – hilflos beobachtet von einer heillos unterlegenen Polizei. War der NSU noch im Untergrund aktiv gewesen, zeigten sich hier die Nationalsozialisten in aller Offenheit. Und obendrein scheinbar ohne jede abstoßende Wirkung: Was sich in den Echokammern des Internets längst synchron radikalisiert, geht jetzt auch auf der Straße eine Verbindung ein; es vermischen sich harte Rechtsradikale mit „besorgten Bürgern“. Was der radikalen BRD-Linken in den 1970er Jahren nie gelang, schafft die radikale Rechte im Osten spielend – mit Mao gesprochen wie ein Fisch im Wasser zu schwimmen. Damit, und das ist die neue Qualität der Proteste, stellt die Straße die Machtfrage. Es komme darauf an, so der erste Aufruf nach der Tötung von Daniel Hillig, zu zeigen, „wer in der Stadt das Sagen hat“. Wenn der rechte Vordenker Götz Kubitschek betont, man wolle den Staat „über eine kulturelle Hegemoniestrategie zu einer Tendenzwende bringen“, hört man dabei nicht nur Antonio Gramsci heraus, sondern immer auch Carl Schmitt: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“. Über den permanenten Ausnahmezustand den demokratischen Staat zu untergraben, das ist das Ziel der Neuen Rechten. Und Chemnitz gab einen Vorgeschmack davon, wie eine derartige Strategie erfolgreich sein kann. Deshalb wurde der „Kampf um Chemnitz“ von den Rechten umgehend als Fanal begriffen – und als erster Schritt auf dem Weg zur Machtergreifung

Diese Mobilmachung verfängt jedoch nur deshalb, weil die Straße mit der AfD über einen starken parlamentarischen Arm verfügt. Die AfD agiert als neue Volksprotestpartei, laut neuester Umfragen im Osten sogar inzwischen als stärkste Formation. Chemnitz hätte niemals diese Wirkung entfaltet, wenn nicht die Ostverbände der AfD den offenen Schulterschluss mit der Bewegung, namentlich mit Pegida und dessen Gründer Lutz Bachmann, gesucht und gefunden hätten, trotz gegenläufiger Parteibeschlüsse. Mit der AfD besitzt die rechte Bewegung – wie einst die grüne – heute ein Spielbein neben ihrem Standbein. Dadurch verstärken sich Straße und Parlament wechselseitig. Keineswegs zufällig verkündete Partei- und Fraktionschef Alexander Gauland angesichts der Bilder von Chemnitz, man strebe eine „Revolution“ wie 1989 an.[2]Auch wenn er auf Nachfrage das „Friedliche“ dieser Revolution betont, ist dabei natürlich für alle Sympathisanten die Systemüberwindung stets mitgedacht.

Ein Drittes, neben dem Rechtsradikalismus der Straße und in den Parlamenten, kommt allerdings seit Chemnitz in aller Offenheit hinzu: Heute begegnen uns auch in den staatlichen Sicherheitskreisen explizite AfD-Argumentationen, wie das Verhalten des ehemaligen Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz und frisch beförderten Staatssekretärs im Bundesinnenministerium zeigt. Hans-Georg Maaßen behauptete via „Bild“, dass es sich bei dem inzwischen bundesweit bekannten „Hase-Video“ („Hase, Du bleibst hier“) „um eine gezielte Falschinformation handelt, um möglicherweise die Öffentlichkeit von dem Mord in Chemnitz abzulenken“ – obwohl die Staatsanwaltschaft nur wegen Totschlags anklagt. Damit bediente er sich exakt derselben Rhetorik wie die AfD, wonach wir es mit einem gleichgeschalteten politisch-medialen Komplex zu tun haben, und zielte explizit auf die Bundeskanzlerin und deren Einschätzung der Lage.

Dass Maaßen der Applaus der AfD sicher war und weiterhin ist, kommt nicht überraschend. Erstaunlicher war dagegen, und damit sind wir bei der vierten Dimension der neuen Lage, dass auch „Bild“ offensiv den Schulterschluss mit dem Chef des Verfassungsschutzes praktizierte. „Erbärmlich“ sei die Kritik an ihm, denn „Maaßen ist ein Patriot, der in der Flüchtlingskrise früh gewarnt hatte, dass wir von zu vielen Menschen, die zu uns kommen, nicht wissen, wer sie wirklich sind.“[3]In dieser unkritischen Verteidigung eines völlig eigenmächtig agierenden Verfassungsschutzchefs zeigt sich, dass die größte deutsche Boulevard-Zeitung, die unter Ex-Chef Kai Diekmann noch mit Refugees-welcome-Buttons auftrumpfte, längst zu einer harten Merkel-muss-weg-Linie gefunden hat.[4]AfD-Chef Gauland lobte denn auch in seiner Pressekonferenz nach Chemnitz ausdrücklich die Entwicklung der „Bild“-Zeitung – gemeint war der Wechsel an der Blatt-Spitze von Tanit Koch zu Julian Reichelt – als Vorbild für die Transformation der Gesellschaft im Sinne der AfD.

WirSindMehr Chemnitz Demonstration 2018.jpg

Vergleicht man daher die Lage nach Chemnitz mit der nach Rostock-Lichtenhagen 1992, dem bis heute wohl dramatischsten Kontrollverlust der Staatsgewalt in der Geschichte der Bundesrepublik, dann hat sich eines radikal verändert: Damals hatten wir es tatsächlich mit einem spontan zusammengekommenen „Mob“ und etlichen Skinheads zu tun, heute hingegen mit einer hoch organisierten Rechten, die im Zusammenspiel mit einer Ost-Volkspartei namens AfD agiert, die sich wiederum bei ihrer Regierungs- und Systemkritik auf einen Teil der Sicherheitsorgane und der Medien verlassen kann. Damit kommt heute – ganz wie in Weimar – ein Teil der Angriffe gegen das System wieder aus dem System selbst. Und dennoch: Chemnitz ist nicht Weimar. Noch sind die Bilder weit entfernt von den Straßenschlachten der 1920er und 30er Jahre. Die AfD ist nicht die NSDAP und Pegida beileibenicht die SA. Der Verfassungsschutz ist kein Staat im Staate wie die Reichswehr und Julian Reichelt kein Alfred Hugenberg. Und doch verschaffen Chemnitz und der Freistaat Sachsen einen Eindruck davon, wie schnell vermeintlich stabile Verhältnisse ins Wanken geraten können. Das aber erinnert durchaus an das Scheitern von Weimar.

Der Politikwissenschaftler und Historiker Karl-Dietrich Bracher hat vor bald 65 Jahren in seiner epochalen Schrift über „Die Auflösung der Weimarer Republik“ die beiden zentralen Gründe für das Ende von Weimar herausgearbeitet: Der erste Grund war das durch die etablierten Parteien geschaffene Machtvakuum, der zweite der Mangel an Selbstschutz der Demokratie, infolge einer mangelhaften Verfassung und fehlender Verfassungspatrioten.[6]Der Untergang der Weimarer Demokratie erklärt sich folglich nicht in erster Linie aus dem Angriff ihrer Feinde – der musste notwendigerweise dazukommen –, sondern aus der Schwäche ihrer vermeintlichen Verteidiger. Diese Schwäche, in Form eines eklatanten Macht- und Autoritätsverlusts, erleben wir gegenwärtig auch in der Bundesrepublik, und zwar auf gleich drei Ebenen: Regierung, Polizei und Justiz.

Machtverfall und Autoritätsverlust

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