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Nach G20 Krawall in HH

Erstellt von Redaktion am Dienstag 17. April 2018

Kampf um die Deutungshoheit

File:G20-Protestwelle Hamburg Rathausplatz 03.jpg

Aus Hamburg :  Katharina Schipkowski

Was geschah beim G20-Gipfel? Neun Monate nach der Gewalt in Hamburg meldet sich das autonome Zentrum Rote Flora zu Wort. Dort will man die Deutungshoheit über die Ursachen der Gewalt nicht länger der Polizei überlassen.

In einer Kneipe im Hamburger Schanzenviertel sagte eine Bekannte neulich: „G20 war unser Nine-Eleven.“ Mit „uns“ meinte sie die Hamburgerinnen und Hamburger. Einige in der Runde schauen irritiert, ein paar lachen, auch die Frau selbst. Natürlich kann man einen terroristischen Anschlag, bei dem 3.000 Menschen starben, nicht mit dem Gipfelgeschehen in Hamburg vergleichen. Aber ein Fünkchen Ernst steckte schon in dem polemischen Vergleich. Seit sich im Juli vergangenen Jahres die Staats- und Regierungschef*innen der reichsten Industrie- und Handelsnationen in der Stadt trafen, hat die Stadt eine neue Zeitrechnung: Wir teilen Erinnerungen in vor und nach dem G20-Gipfel.

Heute, neun Monate danach, sind kaum noch Spuren der Auseinandersetzungen zu finden. Nur einzelne Parolen machen die Ablehnung noch sichtbar, mit der Zehntausende Gipfelgegner*innen dem Regierungstreffen im Juli begegnet waren. „Smash G20“ steht einer Hafenmauer im Stadtteil St. Pauli. Nicht weit entfernt, auf einer anderen Mauer, eine Replik auf die Aussage des damaligen Bürgermeisters Olaf Scholz (SPD): „Polizeigewalt hat es nicht gegeben. Die Erde ist eine Scheibe. Jesus lebt!“

Das Schanzenviertel, wo wütende Gipfelgegner*innen die größten Zerstörungen angerichtet hatten, wirkt längst wieder normal. Die geplünderte und komplett verwüstete Drogerie Budnikowsky hat wieder geöffnet, genau wie der damals verkohlte Rewe-Supermarkt. Bei der Wiedereröffnung ließ Budnikowsky die Kund*innen mit bunten Stiften Solidaritätsbotschaften an die Türen schreiben: „Schön, dass ihr wieder da seid“, stand da, aber auch: „Hoffentlich werden die Übeltäter bestraft“.

Die Sparkassenfiliale im Schulterblatt hat noch geschlossen. Früher, also vor G20, standen hier junge Menschen mit knöchelfreien Jeans und bunten Nike-Schuhen auf dem Gehweg Schlange, um Geld abzuheben. An jedem ersten Mai wird die Sparkassenfiliale von Randalierer*innen und Krawalltourist*innen attackiert, aber beim G20-Gipfel war es den Vermummten gelungen, das Gitter aufzubrechen, die Türen einzuschlagen und Feuer zu legen. Die Filiale soll komplett abgerissen und neu gebaut werden, diesmal fünfstöckig.

Andreas Blechschmidt will etwas klarstellen

Keine 50 Meter entfernt steht, als letzte Bastion von Widerständigkeit in der Schanze, die Rote Flora. Dass es sie noch gibt, ist nicht selbstverständlich. Kurz nach dem Gipfel sah es schlecht für das seit 1989 besetzte autonome Zentrum aus: Der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) forderte die Schließung der Flora, Bürgermeister Scholz nannte die Besetzer*innen „geistige Brandstifter“ und sagte, sein Geduldsfaden sei gerissen.

File:G-20 - Hamburg Schulterblatt Rote Flora 01.jpg

„Es geht um Deutungsmacht“, sagt Andreas Blechschmidt, der Mann, der wie kein anderer mit der Roten Flora verbunden wird. Weil der Anfang Fünfzigjährige mit den kurzen schwarzen Haaren sich seit vielen Jahren in der Roten Flora engagiert und weil er gut reden kann, wird er in der Öffentlichkeit als deren Sprecher wahrgenommen, obwohl es solche Ämter bei Autonomen eigentlich nicht gibt. In Hamburg kennt ihn jeder.

In der Zeit, als die Flora massiv unter Beschuss stand, hat er eisern geschwiegen. Neun Monate nach dem G20 will er mit der taz reden. Er will der Polizei nicht die Geschichtsschreibung überlassen.

An einem grauen Hamburger Nachmittag sitzt der Aktivist im Gemeinschaftsraum eines Wohnprojekts der Hafenstraße und wählt seine Worte mit Bedacht. Wie die Flora im Nachhinein den Gipfelprotest bewertet, was aus ihrer Sicht gut und was schlecht lief – zu alldem schweigt er. Aber Blechschmidt ist auch der Anmelder der autonomen „Welcome to Hell“-Demonstration, die am Donnerstag vor dem Gipfelwochenende von der Polizei zerschlagen wurde, bevor sie überhaupt losgehen konnte. Und dazu will er einiges sagen.

Für Blechschmidt geht die Geschichte so: Die Polizei habe niemals vorgehabt, die autonome Demo, die die Organisator*innen als „größten schwarzen Block Europas“ angekündigt hatten, überhaupt starten zu lassen.

War die Polizei von Beginn an auf eine Zerschlagung aus?

Deshalb genehmigte die Versammlungsbehörde – in Hamburg: die Polizei – die Route ohne Auflagen. „Was meiner gesamten Erfahrung der letzten 15 Jahre in Hamburg widerspricht“, sagt Blechschmidt. Nach der genehmigten Route wäre „Welcome to Hell“ an einer Polizeiwache vorbeigelaufen und hätte direkt am G20-Tagungsort Messehallen geendet. Eine solche Route hätte die Polizei gar nicht zulassen können, sagt Blechschmidt, erst recht nicht, weil sie angab, Hinweise zu haben, dass an der Route Depots für Steine, Wechselkleidung oder Ähnliches versteckt seien.

Während die Teilnehmer*innen sich am Donnerstagnachmittag in der Nähe des Fischmarkts aufgestellt hätten, seien an der Spitze der Demo Verhandlungen über Vermummung zwischen Blechschmidt und der Polizei gelaufen. Nach einer Durchsage hätten die vorderen Teilnehmer*innen ihre Vermummung abgenommen, aber hinten sei die Ansage nicht angekommen. Blechschmidt habe sich auf den Weg gemacht, um es ihnen zu sagen, sagt er. Was dann passiert, ist unstrittig: Eine Berliner Polizeieinheit stürmt von der Seite in die Menge und prügelt auf die Demonstrant*innen ein. Die können nicht weg: vorne die Wasserwerfer, hinten 12.000 Menschen, links Häuser, rechts die Flutschutzmauer. Flaschen fliegen auf Polizist*innen, Menschen versuchen, sich über eine Flutschutzmauer zu retten, und springen mehrere Meter in die Tiefe. Viele werden verletzt. „Aus Kalkül“, sagt Blechschmidt. „Um so viele Autonome wie möglich für die nächsten Tage, militärisch gesprochen, auszuschalten.“

Die Polizei gibt allein den Autonomen die Schuld

Die Polizei interpretiert die Geschichte völlig anders. Hartmut Dudde, der G20-Gesamteinsatzleiter, sitzt neben Innensenator Grote und dem Leiter des Polizeieinsatzes bei „Welcome to Hell“, Joachim Ferk, im Kaisersaal des Hamburger Rathauses. Hier tagt der G20-Sonderausschuss, hier soll die politische Aufarbeitung der Proteste stattfinden, hier müssen sich der Innensenator und die Polizeiführung rechtfertigen. Acht Wochen nach dem Gipfel hatte sich der Ausschuss unter Zustimmung aller Fraktionen konstituiert, bis zum Sommer soll er noch tagen. Am Ende soll ein Bericht herauskommen. Auch Olaf Scholz war schon vorgeladen, als er noch Bürgermeister war. Da sagte er, dass er zurückgetreten wäre, wenn es einen Toten gegeben hätte.

Quelle    :     TAZ       >>>>>          weiterlesen

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Eine Lizenz zum Töten

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Deutsch: Kundgebung bei der G20-Protestwelle auf dem Hamburger Rathausplatz
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Deutsch: G-20 die Rote Flora nach der dritten Kravallnacht
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Unten   —    Part of a black bloc in Hamburg during the G20 summit

 

 

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