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Mythos Europa

Erstellt von Redaktion am Mittwoch 30. August 2017

Was hat die Politik aus dem Europa des Albert Camus gemacht

von Régis Debray

Am Anfang war es eine große Verheißung: Thomas von Aquin und Viktor Hugo, eine glückliche Mischung aus christlicher Inspiration und dem Vorgriff auf humanitäre Werte. Im Sinne des unaufhaltsamen Fortschreitens zur Einheit der Nationen mit gemeinsamer politischer Verantwortung. Hinzu kam, für mich persönlich, der prägende Einfluss des großen Europäers Paul Valéry.

Was Valéry als „l’Europe possible“ beschwor, war gewiss nicht die spätere Europäische Union. War nicht die Wiedererweckung des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, sondern das Europa von Albert Camus, geprägt von mediterranem Licht und katholischer Patina, im ehrwürdigen Alter noch humanistisch geworden, gleichwohl Rom näher als Frankfurt. Dieses Europa erstreckte sich im Süden von Algier über Alexandria bis Beirut, hielt inne in Athen, schob einen Ausleger in Richtung Istanbul und wandte sich dann – über den italienischen Stiefel und die Iberische Halbinsel – nach Norden. Für dieses Europa hatten die Sprache, die Geometrie und die Schöpfungen der Fantasie die elementare Bedeutung, die heute der Dow Jones und die Unternehmensteuern haben.

Die List der Geschichte wollte es anders. Es waren die USA, die uns darauf gebracht haben, als Gegenüber, ja sogar als Konkurrent aufzutreten – als Vereinigte Staaten von Europa. Eine Hegemonialmacht verfügt über das Zaubermittel, die alte durch eine neue Agenda zu ersetzen. Es ist zugleich der Zauber der Liebe. Nach 1945 ist es dem jungen Amerika im Gegensatz zu seinem so­wje­ti­schen Rivalen gelungen, die Liebe der Europäer zu gewinnen. Und wer liebt, ahmt nach. So gesehen war es völlig normal, dass sich das zukünftige föderale Europa am Vorbild der Neuen Welt orientierte. Derart hingebungsvoll auf die Auslöschung der eigenen Persönlichkeit hinzuarbeiten, ist Stoff für einen Dramatiker. Die Europäische Union ist eine antipolitische Maschine, deren Existenz geradezu darauf beruht, jedem Gedanken an Macht abzuschwören. Wie konnte es dazu kommen?

Die Geschichte geht so: Sozialdemokraten und Christdemokraten, die beiden Hauptdarsteller des Dramas, hatten sich am Ende des Krieges ein großartiges Projekt vorgenommen. Um das erneute Aufflammen von Konflikten zu verhindern, sollten die gemeinsamen Interessen Vorrang haben gegenüber den partikularen. Das Rezept lautete: föderale Erlösung von den nationalen Sünden.

So weit kein Einwand. Aber dann machten sich die Sozialisten überall daran, die sozialen Sicherungssysteme abzubauen, den Staat zu schwächen und mit ihm die letzte und einzige Schutzinstanz der Schutzlosen, die öffentlichen Leistungen zu kürzen und das Gewinnstreben zum obersten Prinzip zu erheben. Zugleich errichteten die geistigen Baumeister Europas ein durch und durch materialistisches Gebilde ohne Herz und Seele, in dem die Lobbyisten und die Rechenmaschine das Regiment führen und die Flüchtlinge zum Feind erklärt werden.

Die Europäische Union hat sich nur deshalb nicht aus der Geschichte verabschiedet, weil sie nie in ihr angekommen ist. Nie und nirgendwo wurde eine Armee unter der blauen Europaflagge eingesetzt, nie hat ein Herold aus Brüssel sein Veto gegen irgendetwas eingelegt, nie eine Friedenskonferenz einberufen, nie einen Krieg erklärt oder beendet. Das ist nicht die Art des Hauses.

Die großen europäischen Erfolge, Airbus und Arianespace, beruhen auf Regierungsvereinbarungen, auf klassischer, kluger Kooperation zwischen souveränen Staaten. Beide Projekte dienen eher einem konkreten Zweck und weniger dem institutionellen Gebilde EU, das wie die Filiale eines globalisierten Finanzkapitalismus funktioniert, der dem rheinischen Kapitalismus so fremd ist wie dem französischen Merkantilismus.

Wobei dieses Europa immerhin das großartige akademische Austauschprogramm Erasmus etabliert hat, das jedes Jahr hunderttausende von Stipendien vergibt, an dem auch Nicht-EU-Länder wie die Türkei teilnehmen und andere, wie die Schweiz, gern wieder mitmachen würden (die Schweiz wurde 2014 aus dem Programm ausgeschlossen, nachdem die Eidgenossen in einer Volksabstimmung die Personenfreizügigkeit abgeschafft hatten).

Quelle   :    Le Monde diplomatique >>>>> weiterlesen

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Grafikquelle    :   Kundgebung der pro-europäischen Bewegung Pulse of Europe am Portal des Kölner Doms, März 2017

Ein Kommentar zu “Mythos Europa”

  1. Stefan Weinert sagt:

    EUROPA — aus aktuellem Anlass

    Nun hat gerade heute der EuGH entschieden, dass die EU-Mitgliedstaaten bezüglich der Flüchtlingsaufnahme solidarisch zu sein haben und hat damit die Klage Ungarns und der Slowakei abgewiesen. Orban tobt, doch die Slowakei lenkt ein und Polen hat bis heute null (0) Flüchtlinge aufgenommen. Kann man, ja muss man ein „christliches Europa“ zur Solidarität erst zwingen? QUO VADIS, EUROPA?

    Von Stefan Weinert, 18.3.2016 / 06.09. 2017

    Europa war die Tochter des phönizischen Königs Agenor. Gottvater Zeus selbst verliebte sich in sie und schlich sich, als Stier verwandelt, an sie heran. Er entführte Europa auf die Insel Kreta und gab sich dort als Gottheit zu erkennen. Beide hatten drei gemeinsame Kinder. Ursprünglich stammt das Wort „Europa“ aus einer semitischen Sprache (‚erob’) und bedeutet soviel, wie ‚dunkel’ und ‚Abend’ (daher ‚Abendland’). Gräzisiert wurde daraus ‚eurys’ = ‚weit’ und ‚ops’ (Optik) = ‚Sicht, Gesicht’. Somit hat das griechische Wort die Bedeutung von ‚die [Frau] mit der weiten Sicht’. Aphrodite, die Göttin der Liebe, gab dem Kontinent, zu dem Kreta gehörte, den Namen ‚Europa’, damit diese Frau unsterblich bliebe.

    Der Kontinent ‚Europa’ definiert sich nicht nur geologisch, sondern vor allem auch historisch, kulturell, politisch, wirtschaftlich, rechtlich und ideell. Die Grenzen Europas sind daher mehr eine Frage der gesellschaftlichen Übereinkunft. „Europa ist kein Ort, sondern eine Idee.“ (Bernard-Henry Lévy) Deswegen ist die Frage, ob die Türkei zu Europa gehört, auch nicht geklärt. Geographisch gesehen gehören nur drei Prozent der Türkei zum europäischen Kontinent. Jedoch hat die Türkei bereits 1926 die europäische Gesetzgebung und den gregorianischen Kalender eingeführt. 1928 kam es zur Abschaffung des Islam als Staatsreligion und zur Einführung des lateinischen Alphabets. Andererseits hat die Türkei in den Jahren 1933 bis 1945 vielen deutschen Wissenschaftlern und Künstlern Asyl gewährt. Diese Flüchtlinge haben das gesamte Geistesleben in der Türkei entscheidend mitgeprägt. Umgekehrt haben Millionen von türkischen „Gastarbeitern“ das deutsche kulturelle Leben vielfältiger und bunter gemacht. Allerdings macht der derzeitige türkische Präsidenten Recep Erdogan mit seinen jüngsten Gebaren die Errungenschaften der vergangenen 90 Jahre vollkommen zunichte.

    Der ‚europäische’ – und damit auch deutsche – Mensch wäre ohne Völkerwanderungen der Früh- und Spätantike und der Neuzeit, nicht zu denken. Völkerwanderungen – aus welchen Gründen auch immer – gab es schon immer und es wird sie auch immer geben und sie sind auch notwendig, um einen ‚globalen Inzest’ und dessen Folgen (Verblödung) zu verhindern.

    Mit Beginn des 15. Jahrhunderts überfielen und eroberten viele europäische Staaten ungefragt und ungebeten andere Kontinente und bauten sich dort große Besitztümer und Imperien auf – meist auch unter dem Vorwand der notwendigen „Christianisierung“. Durch (auch deutsche) Kolonialisierung, Sklavenhandel und Warenaustausch hat Europa vor allem Amerika, Afrika und Teile Asiens bis heute prägend beeinflusst. Dabei wurden im Zeichen des Kreuzes ganze Völker (Inkas, nordamerikanische Indianer, man lese dazu das Buch von Dee Brown, „Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses.“) ausgerottet, Ureinwohner zu Menschen zweiter und dritter Klasse erklärt (Apartheid in Südafrika) und andersfarbige Menschen in Ketten wie Vieh behandelt.

    Jedoch im 18. Jahrhundert setzte in Europa eine Bewegung der Aufklärung ein. Mutige und humanistische Menschen (wohlgemerkt: es waren nicht die Kirchen und keine Christen) riefen zur Toleranz, Achtung der Menschenwürde, der Gleichheit und Freiheit auf. In Frankreich gipfelte diese Bewegung in der Revolution von 1789.

    Europa umfasst zurzeit 46 unabhängige Staaten. 28 (27) davon gehören (noch) zur politischen und wirtschaftlichen „Europäischen Union“, wobei Zypern eigentlich geographisch gesehen zu Asien gehört (siehe Türkei). 1951 schlossen sich die Benelux-Länder, Deutschland, Italien und Frankreich zur Montanunion zusammen. Daraus wurde 1957 die EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft). Mit dem Vertrag von Maastricht 1993 wurde die EWG in Europäische Gemeinschaft (EG) umbenannt. Durch den Vertrag von Lissabon ging die EG 2009 vollständig in die „Europäische Union“ (EU) auf. 19 der 28 Staaten der EU haben bisher seit 1999 sukzessive die gemeinsame Währung „Euro“ [€] eingeführt.

    Angesichts der Geschichte Europas und der Situation 2015 – 2017, wo Millionen von Menschen aus politischen, religiösen und auch wirtschaftlichen Gründen nach Europa fliehen und drängen und an den Außengrenzen der EU stranden und verelenden, oder zuvor im Mittelmeer ertrinken, muss die Frage nach dem „Europa mit der weiten Sicht“ mit Recht gestellt werden. In allen 28 (27) Mitgliedstaaten sind die Christen (orthodox, katholisch, evangelisch, evangelikal) in der Mehrzahl. Doch welches Gesicht zeigt das „Abendland“? Ein menschliches, oder gar christliches? Ist es nicht die „Fratze des Egos“? Die Europäische Union hat 508 Millionen Einwohner. Die sechs reichsten Länder der EU, zu denen auch Deutschland an der Spitze gehört, haben ein jährliches Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 11 Billionen Euro. Die Gesamtfläche der 28 EU-Staaten umfasst 4.325.000 km². Selbst wenn in im Jahr 2017 eine (1) Millionen Menschen aus Syrien, Irak, Afghanistan, Eritreer und Westafrika zu uns kämen, dann sind das noch weniger als 0,2 Prozent der EU-Bevölkerung. Ja, wenn denn alle Staaten ihrer aus der Historie erwachsenen europäischen Verpflichtung nachkommen würden. Ansonsten stimme ich dem alten und noch sehr rüstigen Norbert Blüm zu, der angesichts der Not in Idomeni und der Untätigkeit Europas meinte: „Diesen Laden (er meinte die EU) können wir auflösen.“ — Der griechische Innenminister Panagiotis Kouroumplis verglich die katastrophale Lage im Camp Idomeni mit dem NS-Konzentrationslager in Dachau. (Focus online)

    Stefan

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