Mordfall Walter Lübcke
Erstellt von Redaktion am Dienstag 25. Juni 2019
Die braunen Schläfer erwachen
Eine Kolumne von Sascha Lobo
Was weckt rechtsextreme Schläfer und macht sie zu Tätern? Es ist nicht nur das eigene Umfeld. Sondern auch die verharmlosende Ignoranz bürgerlicher Kreise – und vielleicht auch die Wortwahl führender Politiker.
Seit 1990 muss man von mindestens 195 Todesopfern rechter Gewalt in Deutschland ausgehen. Walter Lübcke ist der Einhundertsechsundneunzigste. Wer diese Zahlen überraschend findet, ist passiver Teil des Problems. Unabhängig davon, ob hinter dem Mord ein rechtsterroristisches Netzwerk steht oder nicht, muss diese Tat eine fundamentale Veränderung bewirken. Denn obwohl rechtes Morden Normalität ist in Deutschland, bin ich mir sicher, dass wir vor einem Phänomen neuer Qualität stehen: braune Schläfer.
Es geht hier nicht mehr nur um Radikalisierung, es geht um die Aktivierung längst radikalisierter Personen. Darum, wie gewaltbereite Rechtsextremisten einen Handlungsimpuls bekommen. Hier betreten wir in gewisser Weise Neuland, nicht nur, weil die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind. Sondern weil sich erst in den vergangenen gut zehn Jahren eine flächendeckende, rechte Gegenöffentlichkeit herausgebildet hat, mit eigenen Blogs, Foren, Facebook-Seiten und -Gruppen sowie Chat- und Messenger-Netzwerken. Für Erkenntnisse über längerfristige Auswirkungen ist das ein vergleichsweise kurzer Zeitraum. Wir sind daher gezwungen, mit qualifizierten Vermutungen und Parallelen zu arbeiten. Aus denen ergibt sich ein höchst bedrohliches Bild.
Eine Studie von Wissenschaftlern der niederländischen Universität Leiden hat die Verhaltensweisen von Terroristen untersucht, die oft fälschlich und verharmlosend „Einsame Wölfe“ genannt werden. Tatsächlich sind sie meist in extremistische Strukturen eingebunden. Die Studie stellt fest, dass bei diesen Tätern „soziale Verbindungen ausschlaggebend sind für ihre Aneignung und Erhaltung der Motivation und Fähigkeit, terroristische Gewalt auszuüben“. Der mutmaßliche Attentäter ist seit Jahrzehnten Teil verschiedener Neonazi-Gruppierungen, und er hat im Internet mit Gleichgesinnten kommuniziert.
Solche Attentäter haben eine „häufige Neigung zu ankündigendem Verhalten“, schreiben die Wissenschaftler. Der mutmaßliche Attentäter schrieb offenbar 2018 unter dem Namen „Game Over“ auf YouTube: „Entweder diese Regierung dankt in kürze ab oder es wird Tote geben.“
Ermutigung durch gesellschaftliche Stimmungen
Konkretere Drohungen gegen das spätere Ziel finden laut Studie im Schnitt rund fünf Monate vor der Attacke statt, in diese Zeit kann auch die Auswahl des Ziels fallen. Lübcke war zunächst 2015 von Rechtsextremen im Netz bedroht worden. Im Februar 2019 aber erreichten die Hassattacken gegen den Kassler CDU-Politiker durch einen neuen Blogbeitrag einen neuen Höhepunkt, rund vier Monate vor dem Mord.
Hier ergibt sich der Hintergrund, der zum Umdenken führen muss. Denn die sichtbarste Verbreitung des Blogbeitrags kam von der AfD-nahen, früheren CDU-Politikerin Erika Steinbach. Die Frage ist, welche Rolle solche prominenten Aufrufe bei der Aktivierung brauner Schläfer spielen. Der Journalist Patrick Gensing vom „ARD-Faktenfinder“ ist überzeugt, dass solche Hassattacken eine „Markierung“ der Opfer und eine Ermutigung der Täter bedeuten.
In der niederländischen Studie steht, es komme auf „das breitere, radikale Milieu“ an. Die im Raum stehende These möchte ich erweitern: Nicht nur das Milieu, sondern auch größere gesellschaftliche Stimmungen können auf rechtsextreme Attentäter ermutigend wirken. Die Manifeste des norwegischen Massenmörders von 2011 und des australischen Massenmörders von Christchurch 2019 deuten darauf hin.
In beiden Fällen wurde zunächst ein gesellschaftlicher Handlungsdruck imaginiert, der sich in einen persönlichen Handlungsdrang verwandelte, bevor der Entschluss zur Tat gefasst wurde. Bei beiden haben soziale Medien eine entscheidende Rolle gespielt. Der Norweger hat Passagen aus bekannten, rechtsextremen Blogs in sein Manifest eingebaut. Das ist die wahrscheinliche Verbindung zwischen der rechten Hetze in sozialen Medien und der Aktivierung von braunen Schläfern, der Tag der Abrechnung sei gekommen oder müsse mit einer aufrüttelnden Tat herbeigeführt werden: der Tag X. Der Massenmörder von Christchurch wollte ausdrücklich an diesem Tag provozieren. Genau in dieser Weise haben auch die kürzlich aufgedeckten, rechtsextremen Netzwerke in Bundeswehr und Polizei gearbeitet, die zehntausend Schuss Munition sammelten. Weil sie auf den einen Tag warteten, der die Geschichte Deutschlands verändern soll.
Höcke 2018: „Die Zeit des Redens ist jetzt vorbei“
Quelle : Spiegel-online <<<<< weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Mahnmal Solinger Bürger und Bürgerinnen in Solingen
Autore | Frank Vincentz |
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