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Montagsdemo Bremen

Erstellt von Redaktion am Dienstag 5. Januar 2010

Es gibt sie noch, die Montags-Demo.

File:2007-09-10 Horst Koehler Montagsdemo Bremen.jpg

Für solch ein Signal hatte der Pfarernde Schmarotzer keine Zeit

Nachfolgend eine Rede am offenen Mikrofon von Elisabeth Graf am 04.01.2010 zur 261. Montagsdemo in Bremen.
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Fünf Jahre Armutsbeschaffung per Gesetz

1. Das „Erwerbslosenforum Deutschland“ macht darauf aufmerksam, dass fünf Jahre Hartz IV fünfmal traurige Weihnachten für die meisten Betroffenen bedeuten. Dabei sind besonders Kinder und Jugendliche die eigentlichen Verlierer. So müsste für ein gebrauchtes Fahrrad im Wert von 50 Euro mehrere Jahre gespart werden. Eltern müssten auf vieles Notwendige verzichten, um ihren Kindern dennoch ein äußerst bescheidenes Weihnachtsfest zu ermöglichen. Alleinstehende und Familien mit einer alleinerziehenden Mutter könnten vielfach überhaupt keine Weihnachten feiern, da der Hartz-IV-Eckregelsatz keinen Spielraum für etwaige Ansparung bietet. Nach fünf Jahren mit diesem erbärmlichen und menschenverachtenden Hartz IV lässt sich nur eine äußerst vernichtende Bilanz ziehen. Martin Behrsing brachte es wunderbar auf den Punkt, dass Hartz IV selbst dem ärgsten Feind nicht zu wünschen sei – von wenigen Ausnahmen abgesehen wie etwa dessen Namensgeber Peter Hartz oder dem Ex-Superminister für Arbeit und Wirtschaft, Wolfgang Clement.

Kein einziges Ziel, was den Erwerbslosen versprochen wurde, wurde erreicht. Nun wird den Menschen eingeredet, dass es besser sei, sich von Hungerlöhnen ausbeuten zu lassen als keine Arbeit zu haben. Statt Jobs hagelt es Sanktionen, wenn sich jemand diesen brutalen Methoden widersetzen will. Da können doch so ein paar Kollateralschäden wie Obdachlosigkeit und drohender Hungertod locker billigend in Kauf genommen werden. Wen kümmert das schon? Es geht doch bloß um Überflüssige, um Ausgegrenzte! Hartz IV zog in meinen Augen eine Schneise der Verwüstung durch den Arbeitsmarkt und das Grundgesetz. Das Armutsbeschaffungsgesetz sorgt für eine konstant bleibende Zahl von sieben Millionen Hartz-IV-Beziehern, denen bewusst ihr täglicher Ernährungsbedarf reduziert und die Mittel für Bildung oder Teilhabe an Kultur, Sport und Freizeit gänzlich verweigert wurden.

Neu etabliert wird eine Verbreitung von Suppenküchen Flaschensammlern. Die Armen dürfen den „Abfall des Wohlstands“ der anderen verwerten – und die „Wohlstandstäter“ sich öffentlich belobigen und huldigen lassen, wofür ihnen zum Teil auf in meinen Augen unehrenhafte Weise ihr Platinnäschen veredelt wird. Mit der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe wurden massenhaft Menschen in das Hartz-IV-Forderungssystem gepresst, obwohl sie dort niemals hineingehört hätten, statt ihnen Ausbildungs- und Arbeitsplätze zu vermitteln, was die eigentliche Aufgabe einer Agentur für Arbeit sein sollte. Ein gesellschaftliches Problem wird zu einem individuellen gemacht, womit die Betroffenen persönlich abgestraft werden. Mir kriecht das nackte Grausen den Rücken hoch, wenn ich lese, dass die Bundesagentur für Arbeit findet, die „Chancen“ der Arbeitsmarktreform seien noch längst nicht ausgeschöpft: Es gebe noch zu wenig sensible Kollegen, die die soziale Infrastruktur kennen, die mit schwierigen Lebenssituationen von Menschen umgehen können und denen es im besten Fall gelinge, mit ihnen ein „Arbeitsbündnis“ abzuschließen.

2. Kurz vor Weihnachten forderte die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Margot Käßmann, für alle Kinder einen Rechtsanspruch auf einen Platz in einer Ganztagsschule mit kostenlosem Mittagessen. Sie halte dies für eine staatliche Verpflichtung und findet es unerträglich, dass nur diejenigen in Schulkantinen Essen bekommen, die auch dafür bezahlen können, während die anderen zusehen müssen. Frau Käßmann hob hervor, dass in Deutschland bereits jedes sechste Kind unter der Armutsgrenze lebt. Ich finde, sie hätte sich den Schlenker verkneifen können, dass Eltern eine Erziehungspflicht haben, doch besonders junge Eltern dafür oft gar keine Maßstäbe mehr besäßen und manche eine gezielte Unterstützung von außen bräuchten. Diese Familien sollten so „niedrigschwellig“ wie möglich erreicht werden, zum Beispiel mit die Familie aufsuchenden Sozialarbeitern. Ich stimme mit Frau Käßmann überein, dass alleinerziehende Mütter zu häufig vom Staat allein gelassen werden. Allerdings sollten sie nicht mit sie aufsuchenden Sozialarbeitern belästigt oder mit Gutscheinen für Mitgliedschaften in Sportvereinen, für Schwimmbadbesuche oder für den Zoo abgespeist werden, sondern sie dürfen nicht weiter von der Gesellschaft mit irgendwelchen diskriminierenden Sonderkärtchen ausgegrenzt bleiben! Alleinerziehende Mütter brauchen ein ausreichendes Einkommen und Betreuungsangebote für ihre Kinder, nicht zu vergessen Unternehmer, die ihre Vorurteile ablegen, Alleinerziehende einstellen und auch anständig bezahlen.

3. Die Politik „entdeckt“ die Alleinerziehenden und sieht, dass in jeder fünften Familie Kinder mit nur einem Elternteil aufwachsen, zu 95 Prozent mit ihren Müttern. Nun will das Familienministerium den Alleinerziehenden den Weg zurück in den Arbeitsmarkt ebnen. Da stecken Sozialarbeiter, Jobvermittler und Pädagogen seit Monaten die Köpfe zusammen, dass es nur so raucht, und nun sollen sie vor Ideen sprühen, wie es für Alleinerziehende einfacher werden könnte, eine Arbeit aufzunehmen! „Angedacht“ sind hierbei vor allem Kinderbetreuung, Qualifizierungsmaßnahmen und „Coaching“ für die Betroffenen. Auch den Arbeitgebern sollen ihre klassischen Vorurteile genommen werden. Obwohl die rund 1,6 Millionen Alleinerziehenden, die 2,18 Millionen Kinder betreuen, nicht schlechter ausgebildet sind als Eltern in Familien mit zwei Elternteilen, sind sehr viele von Armut betroffen. 41 Prozent der betroffenen Familien leben von Arbeitslosengeld I oder II. Selbst von den Berufstätigen unter ihnen sind 24 Prozent auf zusätzliches ALG II angewiesen, weil ihr Gehalt zu niedrig ist.

Wir dürfen nicht vergessen, dass die alleinerziehenden Mütter Frauen sind, und die bekommen im hinterwäldlerisch-konservativen Deutschland nun mal im Durchschnitt 23 Prozent weniger Lohn als Männer. Ist dieses Ansinnen mit den Alleinerziehenden nur einfach „nett gemeint“ oder eher Schaumschlägerei – „kurz“ vor den Wahlen in Nordrhein-Westfalen? Für Alleinerziehende gibt es immer mehrere Faktoren, die sie fast unvermittelbar machen oder in Armut verharren lassen. Wenn die Öffnungszeiten der Kitas mal wieder nicht dazu ausreichen, die Betreuung in der Arbeitszeit der Mütter zu gewährleisten, wenn die Arbeitgeber die vielen Krankheiten der kleinen Kinder befürchten, mit der Folge, dass die Mütter ausfallen, wenn an den Wochenenden, in der Nachtschicht keiner die Kinder betreuen kann, wenn die Arbeit dazu so schlecht bezahlt wird, dass ein eigenes Auto als weg- und zeitsparendes Familientransportmittel ein unerfüllter Traum bleiben muss, wenn die Väter oft keinen Unterhalt zahlen – ja, dann scheint Armut eine unausweichliche Falle zu werden!

Mich interessiert auch die Frage im Artikel, wie sich Alleinerziehende „besonders gewinnbringend einsetzen“ ließen. Auch sei die Frage nach einer kleinen Nebensächlichkeit erlaubt, wo nämlich die vielen unbesetzten Jobs für Alleinerziehende am Horizont auftauchen sollen. Warum sollte eine noch mit Erziehung vollbeschäftigte Alleinerziehende mit aller Gewalt in einen nicht vorhandenen Arbeitsmarkt gepresst werden? Geht es hier wirklich um ehrliche Arbeit, oder soll hier vielleicht ein Mega-Ein-Euro-Job-Projekt aufgezogen werden? Schmach über den, der Arges dabei denkt! Werden hier nur neue Teilnehmer für neue Maßnahmen gesucht, die in Vollzeit eingesetzt werden und dann bei Aufnahme der Arbeit so gut wie keine Leistungen von der Arge mehr bekommen? Soll die sich in Deutschland wie ein Krebsgeschwür ausbreitende Dekra Ganztagsaufbewahranstalten für Kinder aus dem Boden stampfen? Da können dann Elternteile für eine „Entschädigung“ von einem Euro die Stunde auf den Nachwuchs der anderen Eltern aufpassen, die in einem anderen Bereich für einen Euro „Entschädigung“ arbeiten, beispielsweise Spielzeug reparieren. Da schlummert in den Köpfen mancher Politiker sicherlich ein „riesiges Potential“, das sich ganz wunderbar zu einem gigantischen profitmaximierenden vierten Arbeitsmarkt ausweiten ließe!

4. Zur Jahreswende wurden manche Politiker „geehrt“. Der frühere Finanzsenator Thilo Sarrazin ist vom Berliner Stadtmagazin „Tip“ zum „peinlichsten“ auf der Hitliste der 100 peinlichsten Berliner gekürt worden. Er darf sich wegen seiner diskriminierenden Äußerungen über Ausländer und Hartz-IV-Bezieher konkurrenzlos glücklich über diesen ersten Platz schätzen. Meiner Meinung nach wurde er von dem Blatt sehr zutreffend als „notorischer Zwangsprovokateur“ beschrieben, der mit seiner Tirade einmal mehr seinen „enorm elitären Dünkel“ offenbare. Mindestens ebenso liebevoll geehrt durfte sich der Präsidenten des Münchner „Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung“, Hans-Werner Sinn, fühlen, als er den negativen Umweltpreis „Dinosaurier 2009“ vom „Naturschutzbund Deutschland“ verliehen bekam. Hans-Werner Sinn sei ein „Dampfplauderer mit egoistischem Sendungsbewusstsein“, der Windräder und Solarzellen ablehne und kaum eine Gelegenheit auslasse, die moderne Umweltpolitik zu attackieren. Schade, dass sich der Ökonom die Chance entgehen ließ, den Preis selbst entgegenzunehmen! Ich finde, dass auch der Bremer FDP-Bürgerschaftsabgeordnete Dr. Oliver Möllenstädt in dieser Galerie wegen seiner von der Staatsanwaltschaft leider nicht weiter verfolgten Unterstellungen gegenüber Hartz-IV-Beziehern eine „gute“ Figur machen würde.

5. Liebe Kinder, gebt fein acht, der Märchenonkel hat euch etwas mitgebracht! Ja, der Ökonom Hans-Werner Sinn macht auch andernorts von sich reden: In diesem Jahr rechnet er nämlich mit einem kleinen Wunder auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Ausgerechnet der „Blöd“-Zeitung erzählte er, dass unser Arbeitsmarkt der Krise trotzen werde, obwohl in den meisten anderen Ländern Katastrophenstimmung herrscht. Statt der 4,5 bis 5 Millionen Arbeitslosen, die vielfach noch im Frühjahr für 2010 erwartet wurden, prognostiziert der Ökonom noch 3,6 Millionen. Er räumt zwar ein, wir säßen in der schlimmsten Krise der Weltwirtschaft seit dem Krieg, behauptet jedoch, wir hätten wegen der massiven Lohnzuschüsse bei Hartz IV und durch das Kurzarbeitergeld 1,3 Millionen Erwerbslose weniger als noch 2005. Wurde Herr Sinn etwa beim Sprechen im Schlaf belauscht, oder meint er, was er sagt? Wenn der Ökonom an derartige Wunder glaubt, die bekanntlich auch Mirakel genannt werden, darf ich ihm vielleicht den Beinamen „Mirakulix“ geben!

6. Manchmal frage ich mich, was so manche Menschen über die Zeit zwischen den Jahren zu sich genommen haben oder wie es kommt, dass sie solche Merkwürdigkeiten erzählen. Bundessozialrichter Peter Udsching findet, dass 130 Euro im Monat jedem, der kochen könne, vollkommen genügen würden für eine vernünftige Ernährung! Er sieht nur die Möglichkeit, nicht mit dem Geld auszukommen, wenn es für teures Fast Food ausgegeben werde. Ob dieser Richter überhaupt mal selbst einkaufen geht? Lässt er einkaufen, oder ist auch diese Tätigkeit zu profan – geht er essen, lässt sich Feinkost nach Hause bringen? Nein, natürlich nicht Fast Food, weil dies doch zu teuer ist! Ich wünschte mir, dass die Menschen, die pauschal solche Aussagen machen, mal ihr Antlitz von ihrem exquisiten Notebook abwenden und einen Blick in die Wirklichkeit der schnöden Normalität anderer werfen würden. Aber wer es sich leisten kann, täglich in Kantinen oder Restaurants zu speisen, kann es sich bestimmt auch leisten, nur 130 Euro für das restliche Essen im Monat auszugeben, also für das Frühstück.

Noch gar nicht erwähnt wurde das Fahrtgeld, das ausgegeben werden muss, um die Einkäufe in den Supermärkten zu tätigen. Toll war noch sein Hinweis auf diese unwürdigen „Tafeln“. Die lassen sich nicht wie ein Supermarkt durchlaufen, um das Gewünschte in den Einkaufswagen zu legen! Häufig gibt es genau das, was gerade selbst nicht gebraucht wird, zum Beispiel nur eine große Auswahl an Weihnachtsgebäck. Was soll dann gekocht werden? Schokoladensuppe? Lebkuchengratin? Spekulatiusauflauf? Stollensalat? Oder brauchen Hartz-IV-Bezieher dringend einen Kochkurs, weil sie ständig das Wasser anbrennen lassen? Als die Königin Marie-Antoinette auf die Hungerprobleme der französischen Bevölkerung angesprochen wurde, sagte sie: „Sollen sie doch Kuchen essen, wenn sie kein Brot haben!“ Sind wir hier von Zynikern oder nur von vollkommen Weltfremden umgeben?

Elisabeth Graf (parteilos, aber Partei ergreifend)

Quelle: 261. Montagsdemo Bremen – klicke hier für die Startseite; Wochennavigation durch ‚Pfeil-Regelung‘

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