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RENTENANGST

Den Mördernamen nennen?

Erstellt von Redaktion am Dienstag 13. Juni 2017

Nicht in der täglichen 15-Minuten-Schau

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/dc/Tagesschau_logoen_2013-07-11_13-56.jpg

Klaus-Jürgen Bruder, Psychoanalytiker, Professor für Psychologie, lehrte an der Freien Universität Berlin, Vorsitzender der Neuen Gesellschaft für Psychologie, Herausgeber u.a. der Schriftenreihe »Subjektivität und Postmoderne« im Psychosozial-Verlag Giessen; Veröffentlichungen zu: Diskurs der Macht, Politische Psychologie, Psychoanalyse, Geschichte der Psychologie, Pragmatismus, Postmoderne, Jugendkultur, Geschlechterbeziehungen. Zur MACHT UM ACHT

Autor: Klaus-Jürgen Bruder

Ein wichtiges Buch: die Dokumentation der kritischen Beobachtung der täglichen Sendung „Tagesschau“ durch drei aufmerksame Journalisten, die den Anspruch der Macher dieser Sendung, über die „wichtigsten“ Ereignisse des Tages „verlässlich, neutral und seriös“ zu berichten, am Grad seiner Realisierung messen. Das Ergebnis fällt ernüchternd bis erschütternd aus: die untersuchten Sendungen der Tagesschau erfüllen keines der behaupteten Ziele.
Im Gegenteil, sie verstoßen gegen den Auftrag einer „öffentlich-rechtlichen“ Nachrichtenanstalt, die Bevölkerung über die wichtigen politischen, kulturellen, ökonomischen, gesellschaftlichen usw. Ereignisse, Fragen, Probleme, Lösungs-Bemühungen etc. zu informieren, nicht die Leser, Hörer, Zuschauer belügen über die vor den Augen der Bevölkerung zu verheimlichenden Machenschaften, kurz nicht: die Bevölkerung an der Nase herumführen.
Ein wichtiges Buch aus einem zweiten Grund: Eine „öffentlich-rechtliche“ Nachrichtenanstalt bietet die Möglichkeit der demokratischen Artikulation der evtl. Kritik an der ungenügenden Erfüllung ihres Auftrags: die sogen. „Programmbeschwerden“. Von dieser Möglichkeit haben die Autoren Gebrauch gemacht. Ihre Beschwerden an den Norddeutschen Rundfunk, die Sendeanstalt der Tagesschau und die Antworten der Kritisierten auf diese Beschwerden werden an Hand von 27 ausgewählten Bespielen ebenfalls dokumentiert.
Eingereicht worden waren mehr als 200 Beschwerden – über einen Zeitraum von drei Jahren. Das sind mehr als 1 pro Woche! Woche für Woche macht sich einer der wichtigsten Sender der Verletzung seiner Informationspflicht schuldig! Allein diese Zahl ist unglaublich!
Lesenswert, was die Beschwerdeführer vorbringen, unerhörte Vorwürfe!
Wenn diese zutreffen, müsste das verantwortliche Personal entlassen werden, wenn nicht strafrechtlich verfolgt!
Und sie treffen zu!! Statt über die „wichtigsten“ Ereignisse des Tages „verlässlich, neutral und seriös“ zu informieren, wird das Publikum mit Geschichten „unterhalten“, die frei ausgedacht sind, um abzulenken – von den Nöten des elenden Alltags, den ihnen die Mächtigen beschert haben, übrig gelassen wie die sprichwörtlichen Brosamen, die von ihren Tischen den Weg nach unten gefunden haben.
Und es erfolgen keine der notwendigen, geforderten Konsequenzen! Im Gegenteil, die vollkommen zurecht Beschuldigten verhöhnen die Beschwerdeführenden!
Ist das schon wieder eine „Neue deutsche Mentalität“? (die Marcuse bei den faschistischen Deutschen diagnostiziert hatte). Jean Ziegler nannte es bereits die „kannibalistische Gesellschaft“: Jede Sekunde Tag verhungert auf der Welt ein Kind. Die, die dem Hunger entfliehen wollen, werden an den Grenzen durch Zäune, bewaffnete Posten aufgehalten, in Lager gepfercht, dem Ertrinken preisgegeben, wenn sie diese Hindernisse überwunden haben!
Darüber berichten die Medien nicht, nicht wie es der Ungeheuerlichkeit und dem Ausmaß dieses Verbrechens angemessen wäre: sie müssten ja jede Sekunde von einem neuen Mord berichten! Sie müssten berichten, weshalb diese Kinder und nicht nur Kinder durch Verhungern ermordet worden sind und weshalb das Morden kein Ende nimmt.
Sie müssten die Mörder beim Namen nennen: nicht die Mütter, die ihren Kindern nur gekochtes Wasser geben können, sondern die, die den Müttern alles andere genommen haben, was sie den Kindern nicht zu essen geben können, was sie selbst nicht mehr haben, die großen Konzerne, die ihr Land kahlfressen, ausbeuten, sie selbst ihrer Lebensmittel enteignen.
Die Konzerne sitzen meist in Europa, oder den USA. Europa und die USA, die reichsten Länder der Erde, sind es, die den Armen die Mittel zum Leben genommen haben, und die nun ihren gestohlenen Reichtum mit Mauern und Waffen gegen sie abriegeln.
Davon berichten die Medien nicht, wie es ihre Aufgabe ist!
Insofern verlängern sie das Elend der Elenden dieser Welt: sie schauen weg, sie halten den Lesern, Zuschauern die Augen zu – den Mund brauchen diese dann nicht mehr zu öffnen.
Die Medien sind (aber) nur der Spiegel dieses Elends, der „verkehrten“ Welt, der Weltordnung des Privateigentums. Unter seiner Voraussetzung ist das Leben zum Mittel geworden, das aufgezehrt werden kann – für einen ihm äußerlichen, aufgezwungenen Zweck, wie jedes andere „Produktionsmittel“.
Ist dann das Buch nicht mehr als ein Dokument des Kampfes gegen Windmühlen, – den diejenigen führten, die diese Schreibtischtäter zur Verantwortung zu ziehen versuchen, indem sie über ihr Verschweigen, ihr falsches Zeugnis berichten? Sie hielten, wie Don Quijote den „Fortschritt“ – des Kannibalismus – nicht auf.
Der „Fortschritt“ ist das – gnadenlose – Versprechen dieser Gesellschaftsordnung: gnadenlos für die Mehrheit der Bevölkerung. Es ist nur eine „Frage der Zeit“ bis sich dieses Versprechen für die „99%“ erfüllt haben wird. Bis dahin gibt es immer noch genügend, denen es „gut geht“, die zumindest keinen Grund für eine Beschwerde sehen.
Gegen diese verkehrte Welt hilft nur: die „entgegengesetzte Laufrichtung“ einzuschlagen (Thomas Bernhard) – wie der sechzehnjährige Gymnasiast der Erzählung Der Keller. Eine Entziehung beschließt, sich damit seinem bisherigen, sinnlos erscheinenden Leben zu entziehen und sich eine Lehrstelle in einem Wohnghetto der Besitzlosen und Kriminellen verschafft und auf diesem Weg die von der Gesellschaft Ausgestoßenen kennen und verstehen lernt.
Die Analyse des Konkreten, des Textes der Darstellung, der Richtigstellung, der ökonomischen Hintergründe und der politischen Dynamik der Inszenierung der Nachrichtensendung, der Verweigerung einer Auseinandersetzung mit den Beschwerden, usw. wie dieses Buch sie dokumentiert, so treffsicher und entschieden, macht dieses Buch zu einem Dokument, Dokument des Widerspruchs, eine Flaschenpost für die nach uns Fragenden: „was habt ihr dagegen gemacht?“ Diese Frage, die Frage unserer Generation an unsere Nazi-Eltern, müssen die Autoren dieser Dokumentation nicht fürchten. Ihre Aufgabe, wie die Aufgabe der vielen unbeugsamen Blogs: „Zeugenschaft zu leisten“ wie Derrida das genannt hat.
Klaus-Jürgen Bruder

Herbert Marcuse (1941): Feindanalysen. Über die Deutschen. Hrsg. v. Peter-Erwin Jansen und mit einer Einleitung von Detlev Clausen. Lüneburg: Zu Klampen 1998
Jean Ziegler (2015): Ändere die Welt!: Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen Gütersloh: Bertelsmann 2015
Thomas Bernhard (1976 [2010]): Der Keller. Eine Entziehung. Residenz Verlag Salzburg [München: DTV]
Jacques Derrida (1993): Spectres de Marx. Paris [dt.: Marx‘ Gespenster: Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Frankfurt/M. (Fischer) 1995].

DIE DEBATTE
ZUR MACHT UM ACHT
Einige Freunde der Rationalgalerie haben das Buch „Die Macht um Acht“ gelesen und werden ihre Rezensionen Zug um Zug an dieser Stelle veröffentlichen. Sie alle beteiligen sich seit Jahren an der intellektuellen Diskussion in unserem Land. Ihre Beiträge können und sollten die Leserinnen und Leser anregen ihre Meinung zur Medien-Verfassung unseres Landes zu äußern. 

Viele Köpfe denken mehr.

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Grafikquelle  :   User:Sogndal 123Eigenes Werk

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