DEMOKRATISCH – LINKS

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RENTENANGST

Linkes Wachsen schmerzt?

Erstellt von Redaktion am Montag 19. März 2018

Debatte: Der Blick über den Gartenzaun

Von Georg Seeßlen

Eine humanistische, demokratische Linke, die den Kosmopolitismus aufgibt, hat (sich) schon verlore.

Die allfällige Rückwendung von Menschen, Gesellschaften, Kulturen und Staaten auf das Eigene, das es gegen das Fremde zu verteidigen gilt, der Rekurs auf Begriffe wie „Volk“, „Nation“ und gar „Rasse“, und, nur ein wenig sanfter, auf „Identität“, „Kultur“ und „Heimat“, scheint gerade zum Leitmotiv für ein Jahrhundert zu werden, das kommende Generationen, wenn es sie denn noch gibt, als ein „verlorenes“ beschreiben werden, jedenfalls in Bezug auf ein Werden des Menschen und des Menschlichen. Gründe dafür scheint es zuhauf zu geben: der gnadenlose Wettbewerb im Turbokapitalismus mit seinen neuen Verteilungskämpfen, der Rückzug der Staaten aus ihren sozialen Pflichten, die Komplexität des globalen Geschehens, die nach Vereinfachungen verlangt, der Aufstieg autoritärer, terroristischer und fundamentalistischer Staaten und Bewegungen und so weiter. Und dann sind da noch sie: die Fremden. Arbeitsmigranten, Elendsmigranten, Luxusmigranten. Vor allem aber, und als würde sich in ihnen das ganze Dilemma dieser verlorenen Epoche ausdrücken: Geflüchtete.

Die Herzländer jener Verbindung von Kapitalismus und Verfassungsdemokratie, die anscheinend das stabilste, vorteilhafteste und menschlichste System von Regierung, Versorgung und Alltag erzeugten, das es je gab, so perfekt und langweilig, dass es gar „das Ende der Geschichte“ bedeuten sollte, werden „überschwemmt“ und „destabilisiert“, ihre Gesellschaften geraten „an den Rand der Belastbarkeit“, die Sozialsysteme können die Neuankömmlinge „nicht verkraften“, und außerdem funktioniert es mit der Integration nicht. Denn unter diesen Neuankömmlingen sind nicht wenige, die sich zwar auf die Segnungen des Kapitalismus einrichten (einschließlich der Idee, man könne sich vom Ausgebeuteten zum Ausbeuter emanzipieren), mit Demokratie, Liberalismus und Bürgerrechten aber herzlich wenig anfangen können oder wollen. Sie treffen freilich auf eine Kultur, die ihre großen Ideale längst verloren hat, auf zerfallende, entsolidarisierte, prekarisierte und in endlosem Krisenmodus weiterwurstelnde Staaten, auf Gesellschaften in Auflösung und Niedergang. Hier und da sind die Fremden ein Problem; ihr größeres Vergehen aber liegt darin, dass sie die Probleme der Länder sichtbar machen, in denen sie Schutz und Heimat suchen.

Leute, die sich von den Fremden bedroht fühlen, sagen gern, sie fühlten sich fremd im eigenen Land. Das Blöde ist nur, dass sie das auch ohne die Fremden täten. Nur würden sie es sich dann nicht zu sagen trauen.

Der Traum bleibt

Indem sie „Solidarität“ zu verlangen scheinen, machen die Fremden darauf aufmerksam, dass das Konzept der Solidarität in den Ländern Europas und in der EU mehr als nur gescheitert ist, nämlich abgeschafft wurde. Und zwar gemeinsam mit zwei anderen Projekten, die nach den Erfahrungen von Faschismus und Weltkrieg auf der Tagesordnung standen. Zum einen: Dem „Kosmopolitismus“ als Grundlage einer Politik, die nicht am Wohl einzelner Staaten, Ökonomien und Gesellschaften orientiert ist, sondern am Wohl aller Menschen und eines Weltverständnisses, das nicht auf „Heimat“ und „Fremde“, sondern auf Neugier und Offenheit aufgebaut ist. Man darf gewiss nicht unterschlagen, dass sich auch im Kosmopolitismus zu Zeiten des Wohlfühlkapitalismus ökonomische, ideologische und politische Interessen verstecken ließen. Und doch gab es diesen kosmopolitischen Traum auch in der linken, demokratischen und humanistischen Form, nämlich indem er sich untrennbar mit dem Konzept der Solidarität verband. Und mit der dritten, von der Reaktion besonders beargwöhnten Kraft der Veränderung, mit einer prinzipiellen kulturellen Offenheit, der Bereitschaft, eigene Codes an anderen kulturellen Sprachen zu reiben, die Gaben anderer Länder nicht als Beute, sondern als Geschenk anzunehmen, sich durch Begegnung zu verändern und aus den unterschiedlichen Elementen etwas Neues zu erschaffen. Nennen wir es, damit es nicht nach unverbindlichem Souvenir-Austausch klingt: Kreolisierung.

Quelle    :   Der Freitag        >>>>>          weiterlesen

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Grafikquelle   :

Oben  ––  Staketenzaun als Vorgartenzaun Höhe 80 cm

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