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Ein Leben ohne Fragen?

Erstellt von Redaktion am Montag 3. September 2018

Ein Leben ohne Fragen ist kein Leben

Von Ambros Waibel

Es waren Abende, nach denen meine Frau und ich wortlos Hand in Hand nach Hause gingen: als müssten wir uns einer Übereinstimmung versichern, ohne noch sagen zu können, was uns eigentlich am gerade Erlebten so irritiert hatte; Abende in Groß-und Kleinstädten, in Kneipen und in Biergärten, nach Besuchen in unseren Familien – die man sich bekanntlich nicht aussucht – wie bei Treffen mit Freunden und Bekannten.

Nach dem fünften oder sechsten Mal, wenn wir noch ein Glas tranken oder im Bad waren, wenn wir von unseren Büchern aufschauten, die wir im Bett lasen, war es dann schon fast ein Witz geworden, die Frage: „Hat dir heute Abend eigentlich irgendwer eine einzige Frage gestellt?“ Die Antwort war immer „Nein“ – , beziehungsweise diese so schreckliche wie nicht loszuwerdende Formulierung „Nicht wirklich“.

Denn was sollte ich etwa von der Frage eines Freundes meines Bruders halten, den ich dreißig Jahre nicht gesehen hatte und der fragend feststellte, dass ich schon noch in unserer gemeinsamen Heimatstadt leben würde, was ich leider nicht mit Ja beantworten konnte und was dann weitere Fragen seinerseits überflüssig machte und er sich so zügig wie möglich ans andere Ende des Tisches begab, um dort mit Gleichgesinnten das zu besprechen, was sie seit dreißig Jahren besprachen.

Im Gegensatz zur großen Unlust zu fragen, ist die Unlust zuzuhören als Phänomen schon oft thematisiert worden. Vor zehn Jahren etwa hieß es in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung, „die Theoretiker“ seien sich einig, dass das Zuhören ins Abseits gerate „in einer Gesellschaft, die immer selbstbezogener, schneller, effizienter ist, in der alle unter Druck arbeiten, lesen, essen, sprechen“.

Stunden des Schwatzens

Der Text verweist historisch solide auch auf das grundsätzliche Problem, sich über die jeweils aktuellen Sitten auszulassen: dass es nämlich immer schon jemand gegeben hat, der die Jugend oder das Alter, die Moderne oder die Reaktion, das Telegraphenkabel oder das Smartphone für unangenehme zeitgenössische Veränderungen verantwortlich gemacht hat. Halten wir es also erst mal persönlich.

File:CSD Freiburg 2018, einige Statements.jpg

Meine Frau und ich, wir sind Journalisten. Wir lieben es zu fragen, es ist unser Beruf. Wir stellen Fragen, weil wir von den Antworten leben, insbesondere von denen, die uns die Befragten eigentlich gar nicht haben geben wollen. Es war für mich durchaus eine Entdeckung, dass diese Herangehensweise auch im Privaten sehr viel mehr Befriedigung und Vergnügen beschert als das Abspulen von Inhalten, deren man sich ja eh schon bewusst ist – wer hätte die drei besten Anekdoten seines Lebens nicht schon mindestens zehnmal erzählt?

Völlig unvorbereitet kam diese Erkenntnis nicht: Ich bin in einer dialogischen Gesprächskultur des Frotzelns, des „Schmäh führens“ aufgewachsen, die vielleicht südlich ist. Bayern, Österreicher, Italiener führen jedenfalls stundenlange Gesprächswettbewerbe, wo es fast ausschließlich darauf ankommt, die schnelle, witzige, auch bösartige Erwiderung zu finden, die Pointe – ein sogenanntes Fremdwort. Ich mag das immer noch sehr gerne, ich mag auch die großen Redenschwinger – solange sie klug sind und lustig und zart –, die trunkenen Stunden des Lachens und Schwatzens, wie sie der Dichter Konstantinos Kavavis einst am Mittelmeer gegen die wortkargen Barbaren verteidigte: „Schatten und Nacht ist das Schweigen; Tag das Wort.“

Quelle    :       TAZ      >>>>>       weiterlesen

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Grafikquellen    :

Oben    —     Plakat mit der Frage „How Is This Real Life??“ (dt. „Wie ist dieses wirkliche Leben??“), Women’s March on Washington 21. Januar 2017

 

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