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RENTENANGST

Kurden im Krieg

Erstellt von Redaktion am Freitag 15. November 2019

Zwischen Erdoğan und Assad

VOA in Al-Hol Camp, Syria, 17 October 2019.jpg

Ein Artikel von Cedric Rehman

Über 12.000 Menschen sind aus den kurdisch kontrollierten Teilen Syriens in den Nordirak geflohen. Ein Besuch im Lager Bardarasch.

Tamara Badran ist nur zwei Tage älter als der Krieg. Sie schläft den Schlaf der Neugeborenen in einem rosa Kuschelkissen unter einer Zeltplane im Flüchtlingslager Bardarasch in der autonomen Kurdenregion im Nord­irak. Das Baby wird nicht einmal wach, als ihre Mutter Gulbin sie auf ihre Schulter legt. Die Kurdin will sich nicht fotografieren lassen. Eine Mutter ohne Ehemann habe es in einem Flüchtlingslager nicht leicht, da sei es besser, keine Aufmerksamkeit zu erregen, murmelt der Übersetzer.

Die Flucht der Mutter und ihres Babys aus Rojava endete auf schwarzem Stein. Aus dem Kurdischen übersetzt lautet so der Name des nordirakischen Flüchtlingslagers Bardarasch. Die Berge zwischen Syrien und Irak haben dem Lager seinen Namen gegeben. Sie erheben sich hinter dem Lager in der gleißenden Sonne schwarz vor dem blauen Horizont. Der „schwarze Stein“ liegt wie ein Riegel zwischen der Heimat, der im Kurdischen Rojava genannten nordsyrischen Föderation, und dem Camp in der autonomen Kurdenregion im Nordirak. Hinter den Bergen schlängelt sich der Tigris durch ein Tal. Mitten im Fluss endet der Irak und Syrien beginnt.

Seitdem Anfang Oktober türkische Bomben auf Orte wie Kobani oder Kamischli fielen, machen sich syrische Kurden auf, um bei den irakischen Kurden Schutz zu suchen. Es sind laut Angaben des UN-Flüchtlingswerks rund 12.000 Menschen, die aus Rojava in den Irak geflohen. Über 11.000 sind im Lager Bardarasch interniert. Sie überqueren aber nicht den Fluss Tigris, sondern nutzen Schleichwege. Es heißt, die Rojava kontrollierenden Syrisch-Demokratischen Kräfte (SDF) wollten eine Massenflucht in den Irak verhindern. Sie ließen niemanden ausreisen aus Angst vor leeren Ortschaften. Sie könnten von ihren Feinden mit neuen Bewohnern gefüllt werden. Der türkische Präsident Erdoğan nannte als ein Ziel seiner Offensive die Ansiedlung von syrischen Flüchtlingen aus der Türkei.

Der Tigris macht südlich des offiziellen Grenzübergangs in Fisch Chabur eine Biegung. Dann verläuft eine grüne und schwer zu überwachende Grenze über Land. Die Schmuggler kennen die Schleichwege. Sie zeigen sie den Flüchtenden aus Rojava für Hunderte von Dollar. Das ist viel Geld für die Menschen aus dem verarmten Nordosten Syriens. Meist gehen sie nachts den Weg in den Irak zusammen mit ihren Schmugglern. Tamara Badran überquerte die Grenze im Dunkeln in den Armen ihrer Mutter Gulbin. Die Schmuggler sagten Gulbin immer wieder, sie solle das weinende Baby zum Schweigen bringen. Die Gruppe würde wegen ihr und ihrem schreienden Neugeboren noch von einer Patrouille der SDF oder der nordirakischen Peschmerga erwischt werden. Aber am Ende erreichten die Flüchtenden den irakischen Boden, ohne jemandem mit der Waffe in der Hand in die Arme zu laufen.

Patrouille turque Kobané 5 novembre 2019.jpg

Die Schleuser zeigten nach stundenlangem Fußmarsch auf Lichter, erzählt Gulbin: „Geht da lang, da ist Kurdistan“, sagen sie. Dann verschwanden sie wieder nach Rojava und ließen die Geflüchteten allein weitermarschieren. Ihr Kind war gerade zwei Tage alt, als die ersten Bomben auf Kamischli fielen. Eine Rakete habe gleich am ersten Tag des Krieges, am 9. Oktober, ein Haus in der Nachbarschaft getroffen. „Unser Haus hat gebebt während der Explosion“, erinnert sich Gulbin. Der Familienrat traf eine rasche Entscheidung: Die Mutter, ihr Kind und die übrigen Frauen der Familie sollten mit einem älteren Onkel in den Irak aufbrechen. Die Männer sollten in Kamischli bleiben und die Stellung halten. „Wir hatten Angst, dass Flüchtlinge unser Haus besetzen, wenn wir alle gehen. Vielleicht ist der Krieg ja auch bald vorbei und wir können zurück“, meint die Mutter.

Alle Geflüchteten werden erst einmal vom Asayis, dem Geheimdienst der autonomen Kurdenregion, überprüft

Schon 2012 sei die Familie aus Syrien in den Irak geflohen, erzählt sie. Nach einer Zeit in einem Flüchtlingslager haben die Männer in der nordirakischen Stadt Sulaimanija Arbeit gefunden. Die Familie zog in ein eigenes Haus. Ob es dieses Mal nicht besser wäre, das endlos umkämpfte Syrien für immer zu verlassen? Gulbin zögert mit einer Antwort. Ihr sei es egal, wo Tamara aufwachse, solange dort Frieden herrsche, sagt sie. „Ich wünsche mir, dass meine Tochter studieren kann. Ich konnte nicht einmal einen Schulabschluss machen wegen der Kämpfe“, sagt sie.

Eine Traube von Geflüchteten folgt einem Manager des Camps. Er sieht die Reporter mit gezücktem Notizblock, die ihm Fragen stellen wollen. Aber er ist umringt von Campbewohnern. Sie lassen nicht von ihm ab. Die Menge folgt ihm von einer Lagerhalle, in der Männer auf Matratzen auf dem Boden liegen und an die Decke starren, durch die staubigen Pfade des Camps bis zu einem Container auf dem Gelände des Lagers. Es dient der Lagerverwaltung als Büro. Anstatt den Container zu betreten, dreht er im Schritt um, als hätte er etwas Wichtiges vergessen. Die Reporter laufen ihm und der Menschentraube hinterher wie ein Gefolge seinem König.

Alle wollen das „Papier“

Sie rufen ihm ihre Fragen zu. Wie viele könnten noch über die Grenze kommen? Wo bleibe die internationale Hilfe? Der Manager antwortet in zwei Sätzen, während er weiter seinen Weg geht. Wie viele noch in den Irak flüchten werden, könne niemand sagen. Und nein, bis auf das UNHCR gebe es derzeit keine internationale Hilfe, ruft der Manager. Dann ignoriert er die Journalisten und wendet sich Camp-Bewohnern zu, die ihm weiter folgen.

VOA in Al-Hol Camp, Syria, 16 October 2019 02.jpg

Vielleicht wollten die Männer und Frauen von dem Manager Auskunft über eine Frage, die alle Geflüchteten in Bardarasch umzutreiben scheint. In ihren Gesprächen geht es immer wieder um „das Papier“. Damit meinen sie den Schein, der zum Aufenthalt im Nordirak berechtigt. Er gestattet es auch, sich eine Arbeit außerhalb des Lagers zu suchen oder zu Verwandten zu ziehen, die bereits in der autonomen Kurdenregion leben.

Quelle         :          TAZ        >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen         :

Oben      —      We are the first reporters inside the al-Hol Camp since Turkish military operations began in northeastern Syria last week. Officials say since the conflict began, the camp, which houses 71,000 people, has become „out of control.“ Camp officials say in the past week there have been attacks, escape attempts and open calls for a violent uprising in al-Hol Camp in Syria, Oct. 16, 2019. (Y. Boechat/VOA)

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2.) von Oben        —       Véhicules de l’armée turque en patrouille caillassés par des habitants de Kobané, le 5 novembre 2019.

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