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Krähen und Strafjustiz

Erstellt von Redaktion am Dienstag 8. Dezember 2020

Krähen sind unter uns

Eine Kolumne von Thomas Fischer

Corvus

Die Krähe (sagen wir: Corvus frugilegus; das ist die, die nachmittags bei Ihnen auf der Terrasse vorbeischaut) ist ein kleiner Rabe, der Rabe eine große Krähe. Die Corvi sind sehr intelligent: Sie planen strategisch, täuschen Konkurrenten, erkennen sich selbst im Spiegel, spielen allein und miteinander und rodeln gern, indem sie verschneite Hänge auf dem Bauch herunterrutschen. Sie können sich in andere Krähen hineinversetzen und vorstellen, was diese sehen, wenn sie eine Handlung aus anderer Perspektive betrachten als sie selbst.

Das Letztere nennt der medienerfahrene Strafrechtsexperte »Empathie«, eine Eigenschaft, die bekanntlich den meisten anderen Menschen in umso beklagenswerterem Maß fehlt, je mehr man selbst damit überreichlich ausgestattet ist. Der empathielose Mensch kommt seit 25 Jahren im öffentlich diskutierten Strafrecht häufig vor, durchweg als Täter, Raser, Mörder, Schänder oder Clanmitglied. Empathisch hingegen sind Menschen, die solche Empathielosen erschießen, aufhängen, für immer wegsperren, foltern, aus dem Verkehr ziehen oder von Löwen zerreißen lassen wollen, also die normal-empathischen Teddybärliebhaber, »Ein Lied für Dich«-Fans und Kriminaldogmatiker wie du und ich. Bevor die Empathie als Grenzlinie zwischen Gut und Böse erfunden wurde, fanden die Leute sich gegenseitig vermutlich ähnlich wie heute, aber es fühlte sich sicher nicht so schön an.

Ich erwähne das, weil ich die Kurve kriegen muss von der Krähe zum Strafrecht und dort zum Landgericht Aachen, 9. Strafkammer. Das wird mir durch das Forum zum SPIEGEL-Artikel »Blindes Vertrauen« von Wiebke Ramm am 30. November leicht gemacht, in dem es um den Freispruch des Rechtsanwalts Ralph W. aus Eschweiler vom Vorwurf des Betrugs zulasten der Staatskasse geht. Er hatte es geschafft, eine nicht existente Person namens Keskin nicht nur als Mandantin zu akquirieren, sondern auch als Nebenklägerin in das NSU-Verfahren des OLG München zu bringen, wo er sich für die Phantomdame zwei Jahre und 230 Hauptverhandlungstage lang unter Verursachung von Kosten in Höhe von ungefähr 210.000 Euro in die Bresche warf. Das ist ein mageres Dreiwochengrundgehalt für Jogi Löw, für den rechtschaffenen Fußballfreund aber eine Summe, für die man drei Wintergärten schwarz bauen lassen oder einen bettelarmen Handwerksmeister mit der Renovierung einer Fünfzimmerwohnung beauftragen könnte. Der Rechtsgelehrte W. aus Eschweiler musste dafür allerdings ziemlich oft von Eschweiler nach München und zurück fahren und dort übernachten, was in der von der Strafjustiz bezahlten Hotelkategorie kein echtes Vergnügen ist.

In dem Forum vom 30. November (andere finden sich unter dem 2. Oktober 2015, 7. August 2020 und 7. Oktober 2020) habe ich bis heute (2. Dezember) etwa 200 Kommentare gelesen. Mindestens 25 davon befassten sich mit der »Krähentheorie«, wonach angeblich ein Corvus jedem beliebigen anderen Corvus »kein Auge« – meint: nicht ein einziges Auge – »aushackt«. Das Augenaushacken ist kein Spaß. Es fällt mir ein, dass ich in meinem ganzen Leben noch nie bewusst eine einäugige Krähe, also eine solche gesehen habe, der wegen Aushackens ein Auge fehlte. Und wenn, dann hätte ich nicht gewusst, ob das Aushacken ein anderer Corvus oder ein verirrter Kapitän Nemo besorgt hätte. Das spricht für die Richtigkeit der Krähentheorie. Sie wird auch nicht dadurch widerlegt, dass Papageien, Sperlinge und Nachtigallen, Bienenelfen und Kondore mit ausgehackten Augen ebenfalls sehr selten sind. Sie wird hierdurch aber auch nicht zwingender. Auch die Theorie, wonach der Apfel nicht weit vom Stamm falle, wird durch die Erfahrung, dass auch die gefallene Birne in der Nähe ihres Stammes zum Liegen kommt, eigentlich nicht berührt, wenn man einmal von Fragen der Schwerkraft absieht.

Wenn also der Vogel als solcher dem anderen Vogel als Person das Auge nicht auszuhacken pflegt, der Frosch dem Frosche kein Auge auslutscht und der Elefant nicht dem Elefanten eines aussticht, muss das metaphorische Anliegen weniger mit den Augen als mit dem Rabenvogel zu tun haben. Dieser, durchweg schwarz gewandet, erinnert den Sprichwortliebhaber an Priester, Bestattungsunternehmer, Ozzy Osbourne und Rechtsgelehrte auf und vor der Richterbank: Ein Bilderbogen des Schreckens, wie man zugeben muss, wenn man Johnny Cash und Juliette Gréco einmal beiseitelässt. Die metaphorische Sogstärke beweist ihr Gewicht dadurch, dass bei Freisprüchen durch das oberste Bundesgericht die Krähe nicht durch den Rotkardinal ersetzt wird.

Rechtssachen

Das Leben des Rechtsanwalts und der Rechtsanwältin ist schwer. Das weiß jeder, der ein paar von ihnen näher kennt. Aber auch schön! Es ist insoweit ähnlich dem der Zahnärzte, Prüfingenieure, Podologen, Apotheker und ambulanten Altenpflegerinnen im freien Beruf: Man muss sich nach der Decke strecken, kommt aber nicht immer hin. Was einem das Personal mit seiner notorisch labilen Gesundheit und seiner chronisch histrionischen Persönlichkeitsakzentuierung nicht vom Kopf frisst, kassiert die Steuer, empathiefrei und pünktlich. Das ist die dunkle Seite des Berufs, also die der 50.000 Raben im Schatten. Sie sitzen in Einzel- und kleinen Partnerkanzleien oder prekären Bürogemeinschaften, in denen die Miete, die dreigeteilte Anwaltsgehilfin, die Rate für die USM-Regale und die Leasingrate für den Volvo schon mal gut die Hälfte vom Brutto-Cashflow absaugen. Am anderen Ende der Skala, im Licht ihres stählern blitzenden Gefieders, residieren  Einkommensmillionäre in den Beletagen von Jugendstil-Niederlassungen, im Parterre ein Dutzend Associates, an der Wand ein paar LL.M.-Diplome aus Sydney, Oxford und Buenos Aires und im Regal ein paar Beratungsmandate, auf deren Aktendeckeln Namen von Gesetzen stehen, die der SPIEGEL.de-Forist noch nie gehört hat. Diese beiden Klischees können das weitere Dutzend immerhin andeuten. Es kommt halt, wie der Jurist, aber auch der Geschichtslehrer und der Umwelttechniker zu sagen pflegen, darauf an.

In den Verlautbarungen des Alltags kann man viel über das Wesen der Rechtsanwälte wie auch der Juristen im Allgemeinen hören und lesen. Das meiste ist kenntnislos und schlicht, trägt aber unbezweifelbare Kerne der Wahrheit in sich, wie es auch die Volksweisheiten über Installateure, Fußballschiedsrichter oder Försterinnen tun.

Ich weiß natürlich nichts über den freigesprochenen Rechtsanwalt W. aus E., dem, wie man hört, in Duisburg fast einmal etwas Ähnliches passiert sein soll, was ihm den Tatvorwurf des versuchten Betrugs bescherte, der nun gemeinsam mit der Last aus München von seinen – wie wir lasen: lautlos zuckenden – Schultern fiel. Ein Rechtsanwalt beim Weinen im Verhandlungssaal des Landgerichts ist ein Bild, das uns zwar in Gestalt von Gregory Peck im »Fall Paradine« vertraut, im filmfernen Alltag aber nicht alle Tage geläufig ist. Hoffnungsvolle Jurastudenten lassen es sich nicht träumen; ihre Vorstellungskraft beschränkt sich auf das Schluchzen dankbarer Mandanten. Empfehlenswerte Präventionsmaßnahmen: Nicht schlampen! Gelegentlich Lebendbescheinigungen der Mandanten anfordern! Ruhig auch mal eine Akte lesen! Nicht jedem Mandat hinterherkriechen! Und wie immer: Weniger schwätzen, mehr denken!

Weiter möchte ich mich da jetzt nicht hereinhängen: Ich kenne weder die Beweislage noch die Urteilsgründe aus Aachen. Was auf den ersten Blick wundersam und fantastisch erscheint, entpuppt sich im Leben nicht selten als Folge einer Kette von gewöhnlichen Fehlern, Irrtümern, Nachlässigkeiten, Glücks- und Zufällen, gelegentlich gewürzt mit einer Portion Chuzpe, Hoffnung und Gottvertrauen. Wäre es nicht so, könnten Sie, liebe Leser, ja nicht so spannende Geschichten über die total überraschenden Höhepunkte Ihres Lebens erzählen!

Eine gefälschte Vollmacht eines nicht existierenden Nebenklägers zu erhalten, dürfte weniger unwahrscheinlich sein als fünf Richtige im Lotto und mindestens so naheliegend wie die Hoffnung, zwei Jahre unfallfrei beim Autofahren E-Mails lesen zu können. Zum Verschwinden des Mandantenphantoms Keskin zu sagen: »Kann passieren«, klingt zugegebenermaßen nicht sehr philosophisch, könnte aber trotzdem stimmen. Es haben schon Chirurgen belegte Brötchen im Bauchraum des Patienten vergessen und Mechatroniker den Motorölstand mit Kühlmittel aufgefüllt. Von der Leserinnen und Leser liebenswerten Schusseligkeiten in Beruf und Freizeit wollen wir gar nicht reden!

Quelle      :        Spiegel-online          >>>>>          weiterlesen


Grafikquellen      :

Oben       —        Fliegende Nebelkrähe


Unten          —      Thomas Fischer auf der re:publica 2016
Ot – Eigenes Werk
Thomas Fischer (Jurist)
CC-BY-SA 4.0
File:Thomas Fischer-Jurist-rebuliva16.JPG
Erstellt: 4. Mai 2016

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