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„Kinder tauchen ab“

Erstellt von Redaktion am Samstag 25. Juli 2020

Das prekäre Milieu ist von Corona am härtesten betroffen.

Von Viktoria Morasch

Wie haben Kinder an Brennpunkt­schulen diese Zeit erlebt? Eine Sozial­arbeiterin aus Berlin erzählt.

Es sind Ferien, und ich habe frei. Aber wenn ein Schüler oder eine Schülerin um Hilfe fragt, bin ich auf dem Handy erreichbar. Es gibt Familien, an die ich denken muss, für die ich mir wünsche, dass die Schule bald wieder losgeht. Ich hoffe, dass die Kinder auch jetzt in den Ferien versorgt sind.

Während des Lockdowns ging es für uns Schulsozialarbeiter darum, zu gucken: Wie erreichen wir alle Schülerinnen und Schüler? Wie stellen wir sicher, dass es ihnen gut geht? Viele waren gar nicht zu erreichen, weder per Handy noch per Mail. Wir sind eine Brennpunktschule in Berlin und haben generell mit schuldistanzierten Jugendlichen zu tun. Wenn sie eine Chance sehen, tauchen sie ab. Das waren bei uns etwa 60 Schüler von 600, 10 Prozent also. Wir haben uns wie Detektive auf die Suche gemacht, die besten Freunde angeschrieben: Hast du was von dem gehört? Hast du eine aktuelle Nummer? Da waren wir recht erfolgreich. Und bei den Härtefällen sind wir mit dem Fahrrad vorbeigefahren. Das waren vor allem Kinder aus sehr großen Familien, oft aus dem osteuropäischen Raum. Die Eltern waren arbeiten, und die großen Geschwister mussten auf die kleinen aufpassen. In diesen Familien gab es auch keine digitalen Endgeräte, wie das so schön heißt, da gab es einfach nichts. Für manche war selbst der Zugang zu Seife schwierig. Wir haben versucht, den Kindern Lernzeiten in der Schule einzuräumen – nach Hygienekonzept – und sie individuell zu betreuen. Der Bedarf war aber so groß, dass die Kapazitäten nicht reichten. Wir hatten große Sorgen wegen des Lockdowns. Die Schüler vertrauen uns viel an, und wir wissen, dass es zu Hause nicht immer leicht ist. Plötzlich waren alle zu Hause, auf engstem Raum, mit den vielen Ängsten und Frustrationen der Eltern.

Meistens sind wir zu zweit zu den Jugendlichen gefahren, wir haben draußen mit ihnen oder den Eltern geredet. Klar, ich hatte auch Angst, mich selbst anzustecken. Aber einmal musste ich eine Jugendliche umarmen, weil sie so geweint hat. Es war mir menschlich nicht möglich, auf den Abstand zu ­achten.

In Hochzeiten haben wir drei Hausbesuche pro Tag gemacht, und das über mehrere Wochen. Es war selten so, dass eine Kontaktaufnahme verwehrt wurde. Generell haben Jugendliche ein großes Interesse, wenn man ihnen zuhört. Sie sagen dann: Krass, ich bin euch so wichtig, dass ihr extra vorbeikommt! Viele Eltern waren mit ihrer eigenen Belastung so im Tunnel, dass sie nicht mehr auf dem Schirm hatten, dass die Schulpflicht weiterbesteht. Es steckt auch eine Scheu dahinter, nach Hilfe zu fragen. Diese Barriere muss man den Leuten nehmen.

Es gab Jugendliche, die angerufen haben, weil sie von zu Hause weggerannt sind. Wir haben dann mit ihnen geredet, geschaut: Kann man den Konflikt mit einem Gespräch klären, oder muss das Kind anderweitig untergebracht werden? Wenn ja, müssen wir zum Jugendnotdienst, zum Mädchennotdienst, mit dem Jugendamt kooperieren, den Eltern signalisieren: Dein Kind ist in Sicherheit. Das hat gut funktioniert.

Corona ist in manchen Fällen ein letzter Tropfen im überlaufenden Fass. Eine Jugendliche zum Beispiel hat Eltern, die schon seit Monaten in einem Scheidungsprozess sind. Mit dem Lockdown ist das völlig eskaliert. Sie fragte sich dann: Bin ich daran schuld? Jugendliche sind in solchen Situationen erst mal verloren. Wenn die Eltern nicht können, brauchen die Kinder ein Netzwerk, das sie auffängt.

Instagram haben wir neu entdeckt in der Coronazeit, wir haben dort einen Kummerkasten eingerichtet, Notfallnummern gespeichert und versucht, den Schülern zu zeigen, dass wir an sie denken. Auf Instagram haben wir auch gesehen, welche Themen sie beschäftigen, Black Lives Matter zum Beispiel. Ich bin für einen Jahrgang zuständig, das sind 120 Kinder. Es sind nicht ganz so viele, mit denen ich übers Handy kommuniziere, aber schon so 45. Klar, mit geregelten Arbeitszeiten funktioniert das alles nicht. Notfälle kommen am ehesten am Wochenende.

Mein Job ist anstrengend, aber die Lockdownphase war extrahart. Meine Arbeit lebt davon, dass ich die Jugendlichen am Schultor begrüße und sehe, ob sie gut geschlafen haben, wie es ihnen geht. Dieses Feedback erahnen zu müssen, anhand von Nachrichten oder der Rückmeldung der Lehrer, ist zum Verzweifeln. Für Lehrer mag alles in Ordnung scheinen, aber viele Jugendliche öffnen sich ihnen gegenüber nicht. Bei mir ist das anders, weil sie von mir nicht bewertet werden. Ich nehme sie so, wie sie sind: ob cool oder uncool, traurig oder mit krimineller Akte. Und das merken sie. Ich finde, man kann nicht sagen: Ich will was von dir wissen, aber selber gebe ich nichts preis. Es ist wichtig für Schüler, zu sehen, okay, das ist nicht nur ein Job, sondern auch ein Mensch, und der lässt mich nicht allein. Ist ein schmaler Grat. Wer viel macht, kann auch viel falsch machen. Es kommt schon mal vor, dass ich eine Schülerin oder einen Schüler zu nah an mich ranlasse. Momente, in denen ich denke: Okay, ich nehme dich jetzt einfach mit. Das ist Blödsinn, aber man erwischt sich dabei. Wenn Jugendliche von der Polizei und dem Jugendamt aus ihren Familien rausgeholt werden und ich dabei bin, wenn Eltern weinen und schreien und Jugendliche auch – das nimmt mich mit, das ist natürlich mehr als eine Aktennotiz, die ich abhefte.

Das Milieu, aus dem meine Schüler kommen, war sicher am härtesten von den Coronamaßnahmen betroffen. Da gibt es kaum Lernmaterialien, oft keine Möglichkeit, sich zurückzuziehen – wie auch, wenn man zu siebt auf 65 Quadratmetern wohnt? Es gibt Familien, die haben kein Internet, die haben ein Handy, das sie sich teilen mit einem Prepaid-Guthaben von monatlich 15 Euro. Die Senatsverwaltung hat darauf reagiert und iPads bereitgestellt, die an diese Familien verliehen werden sollten, allerdings sagen einige Eltern dann: Bei mir springen sechs Kinder herum, ich unterschreibe bestimmt keinen Haftungsausschluss für ein Gerät, das 600 Euro kostet. Und: Den Leuten das Produkt in die Hand zu geben heißt noch lange nicht, dass sie damit umgehen können.

Was während des Lockdowns besonders auffällig war: die verschiedenen Lebenswelten. Wir, das pädagogische Personal, leben relativ privilegiert. Lehrer können sich ihre Einfamilienhäuser in Kleinmachnow leisten. Sie schauen aus ihrer Perspektive auf die Kinder und erwarten gewisse Leistungen. Wenn ich in eine Familie komme, wo ich sehe, da ist keine Struktur, keine Hygiene, und dann von einem Lehrer höre: Der Schüler riecht nicht gut, kannst du dem sagen, er soll sich waschen?, da denke ich mir: Wie soll er das machen? Wir haben teilweise Schüler, die in Obdachlosenunterkünften leben. Das heißt, meine Aufgabe ist auch, Lehrer und Lehrerinnen zu sensibilisieren. Es kann zum Beispiel passieren, dass ein Schüler einen Tadel nach Hause bringt, weil er schon wieder sein Sportzeug vergessen hat – dabei besitzt er schlicht und ergreifend keins und schämt sich dafür. Ich habe Jugendliche erlebt, die heulend vor mir saßen und gesagt haben: Ich musste gestern meine Mutter in die Entzugsklinik bringen, und ich bin jetzt allein zu Hause. Deren Leistung sehe ich natürlich in einem ganz anderen Kontext.

Quelle        :          TAZ          >>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

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