Kairo – Tahrir-Platz 2018
Erstellt von Redaktion am Donnerstag 15. März 2018
Tahrir-Platz, sieben Jahre danach
von Pierre Daum
Unter den Revolutionären von einst herrscht Ernüchterung: Die Repression ist stärker als unter Mubarak, das Leben wird immer teurer, und der Sieger der für Ende März geplanten Präsidentschafts-wahlen steht schon lange fest.
Der Tahrir-Platz an einem Dezemberabend. Vor dem Eingang des Mogamma-Gebäudes, eines gigantischen Verwaltungsblocks aus den 1950er Jahren, trainieren Jugendliche mit Skateboards. Zwei Polizisten sehen wohlwollend zu. Paare jeden Alters sitzen auf den kleinen Steinmauern und genießen das Spektakel. Niemanden scheint der ohrenbetäubende Verkehrslärm und der Staub zu stören, die beiden Plagen Kairos, gegen die niemals jemand zur Revolution aufgerufen hat.
Weit entfernt scheint die Zeit, als hunderttausende Ägypter Schulter an Schulter auf diesem riesigen Platz standen und ein abgewirtschaftetes Regime stürzten, indem sie „Weg mit Mubarak!“ oder „’Aïch, Horia, ’Adala Edjtéma’ïa!“ riefen – „Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit!“
„Januarrevolution“ werden die damaligen Ereignisse heute von den Ägyptern genannt – ohne dass dabei der Tag ihres Beginns (25.) oder das Jahr (2011) genannt werden. Zweieinhalb Jahre später forderte auf dem Tahrir-Platz, der zum Ort, an dem der Volkswillen seinen Ausdruck fand, avanciert war, eine mindestens ebenso große Menschenmenge den Rücktritt von Präsident Mursi, eines Mitglieds der Muslimbruderschaft, der im Juni 2012 zum Präsidenten gewählt worden war. Am 30. Juni 2013 – nach einem von Teilen der Bevölkerung unterstützten Staatsstreich – ergriff dann wieder das Militär die Macht.1
Als sich eine Pro-Mursi-Bewegung zu formieren versuchte, wurde sie nach wenigen Wochen blutig niedergeschlagen: Am 14. August 2013 töteten Polizei und Armee auf dem Rabaa-Platz in Kairo etwa 1000 Mursi-Anhänger. Tausende weitere wurden verhaftet. Ein Jahr später, im Juni 2014, wurde Feldmarschall Abdel Fattah al-Sisi mit 97 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt. Und was ist seitdem passiert? Wie lebt man heute in Kairo?
Dem ersten Anschein nach nicht schlechter als vorher. Die beliebten Cafés, wo man stundenlang Shisha raucht und Fußball schaut oder mit Freunden über Gott und die Welt redet, sind immer voll. Diejenigen, die lieber ein Bier trinken, sowohl junge Männer als auch junge Frauen, treffen sich auf den Terrassen der Bars in den umliegenden Gebäuden. Man kann ins Kino gehen, ein Konzert besuchen oder die Werke zeitgenössischer Künstler bewundern, zum Beispiel in der Galerie Townhouse, einem prächtigen Ausstellungsort in einer ehemaligen Papierfabrik, nur wenige hundert Meter vom Tahrir-Platz entfernt. Heute verfügt der Platz über eine gigantische Tiefgarage, und in seiner Mitte weht eine überdimensionale ägyptische Flagge.
Man scheint alles dafür zu tun, um vergessen zu machen, dass das Volk an diesem Ort die Köpfe zweier früherer Präsidenten forderte.2 Ringsrum in den großen Straßen herrschen Ordnung und Sauberkeit, und das Innenministerium, das stets das Ziel des revolutionären Hasses war, ist vorsichtshalber in einen entfernten Vorort umgezogen. Abgesehen von einigen Verkehrspolizisten im blauen Pullover und mit Strafzettelblock in der Hand sind keine Sicherheitskräfte zu sehen.
Doch der Schein trügt: Erst im vergangenen Herbst klagte Amnesty International über ein vergiftetes politisches Klima. „Anwälte, Journalisten, Oppositionspolitiker, Aktivisten, Menschenrechtler – keine kritische Stimme entkommt den massiven Repressalien der ägyptischen Behörden, die weiterhin Menschen verhaften, verfolgen oder einsperren, die friedlich von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch machen“, hält die Menschenrechtsorganisation fest.3
Miran F., eine junge Frau, die wir mit ihren Freunden in der Nähe des Tahrir-Platzes treffen, teilt diese Meinung nicht. „Ob ich das Gefühl habe, in einer Diktatur zu leben? Nein, definitiv nicht!“ Die 30-Jährige kommt aus einer Kairoer Mittelschichtfamilie – der Vater ist Ingenieur, die Mutter Hausfrau. An der Revolution von 2011 hat sie „selbstverständlich“ teilgenommen, danach an den Demonstrationen von 2013. „Meine Mutter ist absolute Sisi-Anhängerin! Sie liebt ihn! Mein Vater ist da kritischer, er findet, Sisi kenne sich nicht in ökonomischen Fragen aus, und das Leben sei zu teuer geworden, seit er an der Macht ist.“ Sie selbst stehe zwischen den beiden. „Ich vergöttere ihn nicht, aber ich denke, er hat das Land in einer katastrophalen Wirtschaftslage übernommen, und jetzt tut er, was er kann.“ Und die Unterdrückung, all die inhaftierten Menschen, schockiert sie das nicht? „Schon ein bisschen. Aber unter ihnen sind auch Terroristen. Sisi wird schon wissen, was er tut. Sobald die Situation sich bessert, wird er sie freilassen.“
Das Militär ist mächtiger denn je
Miran und ihre Freunde haben jedenfalls keine Angst, im Café, wo trotz des Straßenlärms auch der Fremde am Nachbartisch alles hören kann, offen über Politik zu sprechen. „Selbst auf Facebook scheue ich mich nicht, die Regierung und sogar den Präsidenten zu kritisieren. Und ich wurde noch nie behelligt“, sagt Miran. Ihr Freund Ahmed T. meint: „Das eigentliche Problem ist doch nicht die Freiheit, sondern das Geld. Heute leiden alle unter der Wirtschaftskrise!“ (siehe nebenstehenden Text).
Abgesehen von solch zufällig gesammelten Meinungsäußerungen, ist es schwierig herauszufinden, was die Ägypter von diesem Regime halten, das jede Regung von Protest rigoros unterdrückt. „Menschen, die nichts vom Staatswesen verstehen, möchten sich einmischen und Erklärungen abgeben. Das ist inakzeptabel“, grollte al-Sisi im Januar – eine Warnung an die Persönlichkeiten und Oppositionsparteien, die zu einem Boykott der für Ende März geplanten Präsidentschaftswahl aufgerufen hatten. Diese hatten die Wahl als „absurde Komödie“ bezeichnet, weil zahlreiche Konkurrenten des Präsidenten verhaftet, anderweitig behindert oder mehr oder weniger gezwungen wurden, ihre Kandidatur zurückzuziehen. „Wir garantieren die Stabilität und die Sicherheit, alles andere wäre der Niedergang des Landes“, verkündete al-Sisi. „Ich drohe niemandem. Was vor sieben Jahren passiert ist, wird sich in Ägypten nicht wiederholen.“
Eines ist sicher: Das politische Klima in Ägypten ist heute geprägt durch die Rückkehr der Militärs an alle Machtpositionen, insbesondere in der Wirtschaft. „Die Armee hatte lange Zeit ein positives Image“, sagt der Politologe Tewfik Aclimandos von der Universität Kairo. „Zu Recht oder zu Unrecht hielten die Ägypter sie für weniger korrupt als die Polizei und für effizienter als die Zivilverwaltung, und sie hat eine enge Verbindung zum Volk. In Ägypten hat jeder einen Verwandten oder Bekannten beim Militär.“ Es sei auf jeden Fall verboten, richtige Meinungsumfragen zur Beliebtheit des Präsidenten durchzuführen, erläutert Aclimandos. „Wir müssen uns also mit Indizien begnügen. Und die deuten darauf hin, dass die Begeisterung, die al-Sisi von 2013 bis 2014 an die Macht brachte, stark zurückgegangen ist, insbesondere nach dem Angriff auf das russische Flugzeug 2015.4 Aber er kann immer noch auf eine solide Basis zählen.“
Das Regime verfügt über ein äußerst effektives Werkzeug, um zu gewährleisten, dass ihm ein großer Teil der Bevölkerung gewogen ist: die Kontrolle über die Medien, insbesondere das Fernsehen.5 Bereits unter Husni Mubarak und später in den Jahren nach der Revolution entstanden Privatsender, die sehr beliebte Talkshows ausstrahlten, in denen lebhaft diskutiert wurde. Das ist alles verschwunden. Heute befinden sich sämtliche Sender in den Händen des Regimes und seiner Freunde. Das Gleiche gilt für die Presse, vielleicht mit Ausnahme der Tageszeitung Al-Masry Al-Youm, die eine Auflage von 120 000 Stück hat – bei bald 100 Millionen Einwohnern.
„Ja, wir sind unabhängig“, meint Doaa Eladl, eine beliebte Karikaturistin des Blattes. „Aber es gibt rote Linien, die allerdings nur vage definiert sind, was meine Arbeit schwierig macht. Letztlich kann jedes Thema für das Regime zu einer roten Linie werden. Ich versuche, mich nicht selbst zu zensieren, aber ich weiß, dass ich es tue.“ Es ist zum Beispiel undenkbar, den Präsidenten zu karikieren. Immerhin konnte Eladl im November 2017 eine Zeichnung veröffentlichen, auf der inhaftierte junge Ägypter zu sehen waren, zum gleichen Zeitpunkt, als Präsident al-Sisi in Scharm al-Scheich das Weltjugendforum eröffnete.
Die Kontrolle der Medien hat es den Machthabern ermöglicht, in den Köpfen vieler Menschen die krankhafte Angst vor ausländischer Spionage zu schüren. „Im Fernsehen, in der Presse, immer gibt es einen Vertrauten des Regimes, der uns erklärt, dass die USA und ihre europäischen Verbündeten die ägyptischen Zivilgesellschaft unterstützten, um Mubarak zu stürzen“, erklärt der Schriftsteller Chalid al-Chamissi, Autor des gefeierten Kurzgeschichtenbands „Im Taxi“ (2007).6 „Oder dass eine amerikanisch-zionistische Verschwörung plane, einen Teil des Sinai den Palästinensern zu überlassen. Aber zum Glück sei es Präsident Sisi gelungen, diese Pläne zu vereiteln und Ägypten zu retten!“
Vor diesem Hintergrund gibt es fast keinen Raum für Stimmen, die von der vorherrschenden Meinung abweichen. Ägyptische Menschenrechtsorganisationen sprechen von „60 000 politischen Gefangenen“ und weisen gleichzeitig darauf hin, dass es unmöglich ist, zuverlässige Zahlen zu erhalten. Das „Ägyptische Koordinierungsbüro für Rechte und Freiheit“ (Egyptian Coordination for rights and freedoms, ECRFEG) zählt jeden Monat 40 „Verschwundene“. Viele Menschen werden verhaftet und anschließend gegen Kaution wieder freigelassen. Die meisten von ihnen haben Verbindungen zur Muslimbruderschaft oder werden verdächtigt, mit Mursi zu sympathisieren. Die Muslimbrüder, jahrzehntelang die einzige Oppositionskraft im Land, wurden aus der politischen Landschaft entfernt, einerseits durch die staatliche Repression, andererseits aufgrund interner Konflikte.
Mehrere Tausend sind in Türkei geflüchtet. „Und diejenigen, die in Ägypten geblieben sind, führen ein Schattendasein, sofern sie nicht im Gefängnis sitzen“, erklärt die Wissenschaftlerin Fatiha Amal Abbassi, die über die Bruderschaft promoviert. „Sie haben ihre Kleidung und ihre Redeweise geändert. Und die verpflichtenden wöchentlichen Treffen der ‚Usra‘ (Familie) – so werden die Lokalgruppen der Bruderschaft genannt – wurden ausgesetzt.“ Viele hätten sich auch mit den Anführern der Bruderschaft überworfen und von der Organisation getrennt, sagt Abbassi. Und einige sind offensichtlich zu terroristischen Gruppen übergelaufen, wobei eine Untersuchung dieser Problematik unmöglich ist, würde sie doch von den Behörden schamlos ausgenutzt, um jedweden Oppositionellen als „Terroristen“ abzustempeln.
Und was ist mit den Aktivisten, die 2011 die Revolution angetrieben haben? „Am Anfang war das eine Gruppe von einigen tausend Menschen, denen sich mehrere zehntausend Sympathisanten anschlossen, ohne dass sie jemals eine Organisation oder Partei gründeten“, erzählt der Politologe Youssef El Chazli. Die meisten von ihnen haben ihre politische Arbeit eingestellt. Einige sitzen im Gefängnis, andere sind ins Ausland gegangen, viele haben eine depressive Phase hinter sich.
Quelle : Le Monde diplomatique >>>>> weiterlesen
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Grafikquelle :
Oben —– Auf der von der militärgestützten Übergangsregierung geleiteten Pro-Militär-Kundgebung am 25. Januar 2014 am Tahrir-Platz präsentieren viele Teilnehmer Bilder des Militärchefs Sisi, dessen Präsidentschaftskandidatur weithin erwartet wurde.[31]
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Unten —
Auch Frauen und Kinder neben verbotener R4bia-Flagge