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In Globalitätsgewittern

Erstellt von Redaktion am Montag 21. Mai 2018

Die Neuerfindung des Fremden und des Eigenen
im Zeitalter des kosmopolitischen Nationalismus

View from the city walls, Khiva (4934484894).jpg

Von Alem Grabovac

Man wird, wohin man auch reist, dem Eigenen nicht entkommen. Das Eigene ist in und um uns herum, ist in Städten und Landschaften, die man noch nie gesehen oder bereist hat. Das Eigene und das Fremde, wie wir sie bislang kannten, sind eine Fata Morgana, ein Blendwerk, eine vergangene Glaubensvorstellung, die auf den Märchenerzählungen verunsicherter Zeitgenossen basiert.

Die nächste Reise führt einen vielleicht in die Oasenstadt Chiwa im Nordwesten Usbekistans. Fremder geht es kaum, denkt man. Chiwa ist über 2.500 Jahre alt, liegt am Rande der Kysylkumwüste und war ein wichtiges Handelszentrum der historischen Seidenstraße. Die Moscheen und Minarette, die von einer mächtigen Befestigungsanlage umrahmt werden, flimmern gleißend in der Mittagssonne. Bärtige alte Männer in breiten Gewändern flanieren durch die Altstadtgassen. Aus den Innenhöfen der Häuser hört man das Blöken der Ziegen und Schafe. Eine Stadt am Ende der Welt, ein Seidenstraßen-Märchenland-Traum wie aus 1001 Nacht.

Doch dann, am Abend, geht man in sein Hotel mit freiem WLAN. Man liest auf dem Smartphone die neuesten Nachrichten, sieht im Mail-Account ein Video von seinem Kind, das zeigt, wie es vor ein paar Stunden mit einem Kita-Kumpel in einem Berliner Park Ameisen gezählt hat und verabredet sich mit einem Freund via Facebook für nächsten Dienstag zum Abendessen in einem syrischen Restaurant in Neukölln. Danach schaltet man den Hotelfernseher ein und es läuft das Spiel Bayern München gegen Borussia Dortmund. Live. Mit deutschem Kommentator. Mitten in Usbekistan.

Diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, jenes Eigene im Fremden, findet sich in nahezu allen Bereichen des globalisierten Lebens. Ich war in New York und in Kalifornien, ohne jemals dort gewesen zu sein. Mein T-Shirt hat eine Näherin in Bangladesch fabriziert, die deutsche Telefonauskunft sitzt im südindischen IT-Standort Bangalore und in der Innenstadt von Tiflis befinden sich, wie in nahezu allen anderen Städten der Welt, die immer gleichen Markenfilialen der globalen Handelsketten. Das Fremde hat unsere Haut, unsere Mägen und Gehirne erobert, ist in seiner Pluralität zu unseren Eigenheiten geworden.

Früher waren das Fremde und das Eigene noch klar definiert. In vormodernen Zeiten, in dörflichen Gemeinschaften, war das Sein übersichtlich und vorherbestimmt: Das Fremde begann für diese Gemeinschaften an ihrer Dorfgrenze. Gewiss gab es damals auch weitverzweigte Handelsbeziehungen. So wurden auf der Seidenstraße Waren über Tausende Kilometer transportiert. Auf jenen Handelsstrecken verbreiteten und vermischten sich Religionen und Kulturen. Der Buddhismus gelangte bis nach China und Japan; Papier, Gewürze und Schwarzpulver zogen von Osten nach Westen. Die Araber brachten das Dezimalsystem vermutlich bereits im 10. Jahrhundert nach Europa. Im Gegensatz zu heute breiteten sich die Kultur- und Technologietransfers langsam aus, über Jahrhunderte. Das Fremde berührte die lokal gewachsenen Strukturen meist nur peripher.

File:Marina Bay Sands in the evening - 20101120.jpg

Das Fremde, wie wir es kennen, ist hingegen eine Erfindung des modernen Industriezeitalters. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Benedict Anderson hat in seinem Klassiker der Nationalismusforschung „Die Erfindung der Nation“ dargelegt, dass erst die Ausdehnung des Buch- und Druckmarktes es Menschen ermöglichte, sich über größere Räume hinweg als vorgestellte Gemeinschaften zu definieren. Nationen sind mediengeborene Kollektive, in denen zusammenwächst, was gemeinsam liest, hört, sieht und neuerdings im Internet gemeinsam chattet.

Auf dem Gebiet heutiger Nationen gab es viele verschiedene Sprachen, Traditionen, Ethnien und Kulturen, die erst durch die Einführung einer nationalen Schulpflicht, die Standardisierung von Landessprachen und die Mythologie einer nationalen Geschichtsschreibung seit dem 18. Jahrhundert zu modernen Nationalstaaten wurden. Das Fremde wurde in das Eigene eingeschrieben: Millionen von Menschen, die sich nie im Leben sehen oder begegnen werden, begriffen sich nunmehr als homogene Nationalgesellschaften. Das Fremde begann jetzt an den Schlagbäumen nationaler Landesgrenzen.

Im 21. Jahrhundert wird uns die Nation selbst zur Tradition: Das Fremde ist nur noch einen Mausklick weit entfernt, die globalen Nachrichtenströme und die Macht der Imagination möglicher Leben lassen sich nicht mehr durch nationalidentitäre Machtcontainer kontrollieren. Die Verdichtung der Welt durch globale Migrations- und Tourismusbewegungen, die zunehmende Interdependenz der Weltwirtschaft, die Gleichzeitigkeit möglicher Lebensentwürfe in den digitalen Netzwerken: All das macht aus dem Fremden das Eigene und aus dem Eigenen das Fremde.

Quelle    :        TAZ         >>>>>      weiterlesen

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Grafikquellen  .

Oben   —     View from the city walls, Khiva  / Blick von der Stadtmauer, Khiva – Usbekistan (Seidenstraße)

Unten     —         Marina Bay Sands, Singapore        /   Blick auf den Hafen von Singapore am Abend

Source Own work
Author Someformofhuman
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