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Erstellt von Redaktion am Dienstag 28. November 2017

Flüchtlingsabwehr um jeden Preis

von Johannes Simon

Nichts Neues in der Flüchtlingsabwehrpolitik der Union: Auch wenn sie es nicht Obergrenze nennen, schreiben CDU/CSU in ihrer Einigung auf eine gemeinsame Linie doch die Zahl von 200 000 Menschen fest, auf die sie die Zuwanderung von Flüchtlingen künftig begrenzen wollen. Gleichzeitig firmiert dies unter dem Deckmäntelchen des Humanitären. Hier zeigt sich so deutlich wie sonst kaum, dass wir im Zeitalter des Postfaktischen leben.

Wer das nicht glaubt, sollte sich genau anschauen, wie europäische Politiker über Flüchtlinge in Libyen sprechen. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini etwa berichtete im September in einer Rede vor dem Europaparlament, die „Arbeit, die wir in den letzten zwei Jahren geleistet haben“, trage jetzt endlich Früchte. Durch die Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache habe man „Hunderttausende Menschenleben gerettet“.

Ganz abgesehen von der astronomisch hohen Zahl, die Mogherini nennt: Das Gegenteil ist wahr. Zur Erinnerung: Die EU hat die libysche Küstenwache seit fast zwei Jahren finanziert, ausgebildet und durch die Marineoperation „Sophia“ unterstützt; gleichzeitig schränkte sie diesen Sommer die Seenotrettung durch private NGOs dramatisch ein. Dadurch ist die Überfahrt über das Mittelmeer noch gefährlicher geworden: Dieses Jahr starb jeder 50. Flüchtling bei der Überfahrt gegenüber jedem 90. im Jahr 2016. Vor allem aber lässt sich das, was die libysche Küstenwache betreibt, kaum als Seenotrettung bezeichnen. Vielmehr fängt sie Flüchtlinge, die versuchen, das Bürgerkriegsland zu verlassen, ab und bringt sie zurück nach Libyen, um sie dort in Lager einzusperren.

Mogherini sprach zwar auch von den „inakzeptablen“ Zuständen in diesen Einrichtungen. Doch das klang ganz so, als habe die Unterstützung der libyschen Küstenwache durch die EU nichts mit den Lagern zu tun, in denen die angeblich geretteten Flüchtlinge schließlich landen. Ohne die EU würde jedoch keine dortige Miliz oder selbst ernannte Regierung auch nur einen Finger rühren, um Flüchtlinge daran zu hindern, das Land zu verlassen. Diesen offensichtlichen Zusammenhang machte die Präsidentin der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“, Joanne Liu, nach einem Besuch im Land kürzlich in einem offenen Brief an die europäischen Regierungen deutlich: „Was ich in Libyen gesehen habe, würde ich als den Inbegriff menschlicher Grausamkeit in Extremform beschreiben“, schreibt Liu und fährt fort: „Jede Nation und jede Regierung, die dazu beiträgt, Menschen zurück nach Libyen zu schicken oder in Libyen festzuhalten, macht sich mitschuldig.“[1]

Die Schuld der Europäer

Spätestens seit es die Gefängniswärter finanziert, ausrüstet und anstiftet ist Europa verantwortlich für das Schicksal der in Libyen eingesperrten Menschen. Denn es sind die libyschen „Behörden“, die Flüchtlinge „foltern, vergewaltigen“ und „versklaven“, wie es in einem UN-Bericht zu Libyen heißt.[2]

Die verantwortlichen Politiker geben sich gerne bestürzt ob der horrenden Zustände und versuchen den Anschein zu erwecken, als handle es sich um eine improvisierte Notlösung, die sich bestimmt bald verbessern lasse. Doch der gegenwärtige Zustand ist über sehr lange Zeit planvoll herbeigeführt worden – und Deutschland war immer ganz vorne mit dabei.

Schon im April 2016 hatte Angela Merkel einen Deal mit Libyen „wie mit der Türkei“ gefordert, während Mogherini zeitgleich in einem internen Papier des EU-Außendienstes skizzierte, wie ein solcher Deal aussehen müsste. Demnach sollten die libyschen Behörden in Zusammenarbeit mit der EU „vorübergehende Auffanglager für Migranten und Flüchtlinge“ unterhalten. „Dabei muss man auch über Inhaftierungseinrichtungen nachdenken“, heißt es in dem Papier weiter.[3] Bereits im Mai 2016 begann die EU-Marinemission „Sophia“, die libysche Küstenwache auszubilden.

Damals waren die Zustände in den libyschen Lagern nicht anders als heute. In einem Bericht der Vereinten Nationen vom Dezember 2016 mit dem Titel „Eingesperrt und entmenschlicht“ ist von einer „Menschenrechtskrise“ die Rede. In den Lagern der Regierung seien Flüchtlinge „Opfer von Zwangsarbeit, Erpressung, willkürlicher Freiheitsberaubung, Gewalt, Folter, Vergewaltigung und Mord“. Von der Küstenwache aufgegriffene Flüchtlinge „werden oft geschlagen, ausgeraubt und in Gefangenenlager oder private Häuser oder Farmen gebracht, wo sie Zwangsarbeit, Vergewaltigung und anderer sexueller Gewalt ausgesetzt sind.“[4]

Das alles war bekannt, während der von Mogherini skizzierte Plan stückweise in die Tat umgesetzt wurde. Im Februar dieses Jahres unterzeichnete Italien einen ersten expliziten Deal zur Flüchtlingsabwehr mit der libyschen „Einheitsregierung“, bei dem ausdrücklich von Aufnahmezentren die Rede war. Die übrigen europäischen Regierungen stimmten dem Abkommen zu und bewilligten weitere 200 Mio. Euro für den EU-Fonds für Afrika, um Libyen bei der „Kontrolle der Land- und Seegrenzen“ zu unterstützen. Priorität habe „Training, Ausrüstung und die Unterstützung der libyschen Küstenwache und anderer relevanter Behörden“. Dass der Plan erst diesen Sommer wirklich gegriffen hat – über ein Jahr nachdem Merkel ihn gefordert und Mogherini ihn ausgearbeitet hatte –, hat auch damit zu tun, dass es keine zentrale libysche Regierung gibt, sondern nur ein Netzwerk von Milizen, Warlords und Gangs, die zum Teil selbst in den Menschenschmuggel involviert sind. Dementsprechend schwierig gestalteten sich die Verhandlungen.

Aber: Genau der gegenwärtige Zustand ist seit über einem Jahr angestrebt worden. Und die ganze Zeit war völlig klar – für die Verantwortlichen, aber auch für die Öffentlichkeit, soweit sie interessiert war –, was die Konsequenzen sein würden. Es ist wichtig, das so banal festzustellen – und sei es nur, um der wieder und wieder vorgetragenen scheinheiligen Betroffenheit von Martin Schulz, Angela Merkel und Sigmar Gabriel etwas entgegenzusetzen.

Die Zukunft der europäischen Flüchtlingsabwehr

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So sind wir im Sommer 2017 an einem entscheidenden Punkt in der Entwicklung der europäischen Flüchtlingspolitik angekommen. In Libyen wurde die bisherige Externalisierungsstrategie der EU auf eine grausame Spitze getrieben. Gleichzeitig gibt es keinen Grund anzunehmen, dass in Zukunft weniger Menschen versuchen werden, nach Europa zu gelangen. Eine amerikanische Studie kam 2016 unter Auswertung zahlreicher demographischer Daten zu dem Schluss, dass der „langfristige Migrationsdruck“ von Afrika nach Europa in den nächsten Jahrzehnten weiter zunehmen werde. Die immer wieder angekündigte „Bekämpfung von Fluchtursachen“ würde daran nicht das Geringste ändern, selbst wenn Europa wirklich an der nachhaltigen Entwicklung Afrikas interessiert wäre. Denn paradoxerweise führt gerade steigender Wohlstand erst einmal dazu, dass noch mehr Menschen auswandern.[5] Das bedeutet: Das vorgelagerte europäische Grenzregime, das seit einigen Jahren in Afrika entsteht, wird von Dauer sein. Wenn es heute stimmt, was der italienische Innenminister und maßgebliche Architekt des „Libyendeals“, Marco Minniti, sagte, nämlich dass „an Libyens Südgrenze die Grenzen Europas verteidigt werden“, dann gilt das auch noch 2020, 2030 und 2040. Was man gerade in Afrika beobachten kann, ist die Zukunft der europäischen Flüchtlingsabwehr – und in Libyen wird etabliert, welche Maßnahmen dabei als „akzeptabel“ angesehen werden.

Die Strategie der Externalisierung ist natürlich nichts Neues. Schon seit der Jahrtausendwende verlässt sich die EU bei der Migrationskontrolle zunehmend auf Drittländer. Auch mit Libyen gab es bereits unter Muammar al-Gaddafi eine Reihe entsprechender Abkommen. Der Diktator drohte seinerzeit, ohne ihn werde „Europa schwarz werden“ – und Italien zahlte ihm Milliarden, um das zu verhindern. Die Zusammenarbeit wurde so eng, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Italien 2011 verurteilte, weil die italienische Marine Flüchtlinge auf hoher See aufgegriffen und nach Libyen zurückgebracht hatte. Das Völkerrecht verbietet einen solchen Pushback, wenn die Sicherheit der Flüchtlinge in dem Land, in das sie gebracht werden, nicht garantiert ist.[6]

Zu diesem Zeitpunkt war Gaddafi – unter tatkräftiger Mitwirkung Italiens, Frankreichs und Großbritanniens – schon gestürzt worden. Europa hatte keinen Partner mehr in Tripolis, als ab 2014 die libyschen und syrischen Bürgerkriege zur sogenannten Flüchtlingskrise führten. In ihrem Zuge hatten die nordeuropäischen Länder für einige Monate ihren „Dublin-Schutzschild“ verloren. Seitdem wird auf europäischer Ebene mit großer Energie an einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik gearbeitet. Nach dem „Erfolg“ des Türkei-Deals Anfang 2016 versucht man, dieselbe Strategie in Afrika zu wiederholen. Schon im November 2015 wurde ein „Emergency Trust Fund for Africa“ über (vorläufig) zwei Mrd. Euro aufgelegt, um sich die Kooperation afrikanischer Länder bei der Migrationskontrolle zu erkaufen. Im Juni 2016 folgte das „New Partnership Framework for Third Countries“, das diese Zusammenarbeit formalisiert und auch Sanktionen für jene Länder vorsieht, die sich weigern zu kooperieren. Im Zentrum standen dabei zunächst Niger, Nigeria, Senegal, Mali und Äthiopien. Äthiopien war schon Teil des „Khartoum-Prozesses“, mit dem Flüchtlinge aus dem Horn von Afrika aufgehalten werden sollen. Dafür erhalten die Sicherheits- und Repressionsorgane von Staaten wie Eritrea, Sudan und Äthiopien etliche Millionen Euro sowie Hilfe bei der Ausrüstung und Ausbildung.[7] Deutschland nimmt dabei eine führende Rolle ein, besonders im Sudan.[8]

Vom Türkei-Deal zum Abkommen mit einem Failed State

In diesem Kontext muss man das Libyen-Abkommen sehen: Es ist europäisches business as usual – mit dem entscheidenden Unterschied, dass es in Libyen keinen funktionierenden Staat gibt. Die sogenannte Einheitsregierung und ihr von der EU unterstützter Präsident al-Sarradsch kontrollieren nicht einmal ein paar Häuserblocks in Tripolis. In Libyen operieren etwa 2000 Milizen, einige von ihnen haben sich der Einheitsregierung angeschlossen, werden von dieser aber keineswegs kontrolliert. So traf die italienische Regierung im Februar nicht nur ein Abkommen mit der Einheitsregierung, sondern auch mit Vertretern von Stämmen der Tuareg und Tebu, die im Süden Libyens den Grenzverkehr kontrollieren. Im Osten des Landes gibt es außerdem eine zweite Regierung unter Führung von General Haftar, die militärisch um einiges schlagkräftiger ist und in letzter Zeit immer wieder ankündigte, nach Westen gen Tripolis vordringen zu wollen. Ausgehend von dieser Lage war frühzeitig abzusehen, dass ein Abkommen mit Libyen auf die Kooperation mit einzelnen Milizen und Warlords hinauslaufen würde, und zwar besonders mit jenen, die bis dahin die Migration nach Europa kontrollierten. Auf 300 Mio. US-Dollar jährlich schätzte der ehemalige Leiter der EU-Marinemission „Sophia“, Admiral Credendino, den Umsatz der verschiedenen Milizen mit Flüchtlingen.[9] Damit würden die EU-Mittel konkurrieren müssen.

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Sklavenhandel in Libyen

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Graffikquellen:

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