Erstellt von Redaktion am Mittwoch 29. April 2020
Zwischen Untergang und Orgie
Deutschland im Frühling: Wechselspiel von Strategien und Befürchtungen, Urlaubssehnsucht und Laptopfieber. Immer die Frage: Was ist verhältnismäßig?
Statistik
Die sechste Woche hintereinander eine Corona-Kolumne? Ist das nicht zu viel? Was soll man schreiben über das Thema, über das alle immerzu schreiben? Und doch: Vom Völkermordprozess in Koblenz bis zum traurigen Tod Norbert Blüms, vom iranischen Satellitenstart bis zu Kim Jong Uns traumhafter „nice note“ an den Meister des starken Lichts in Washington steht alles im Schatten der Pandemie und der Furcht vor der Zukunft. Altvertraute Begriffe erschließen sich vielen in neuem Licht.
Wussten Sie, dass eine Covid-19-Erkrankung ungefähr so ist wie eine schwere Grippe? Damit meine ich nicht das, was Sie früher zwei- bis dreimal im Jahr dazu brachte, Donnerstag morgens um 7.30 Uhr Ihrem Arbeitgeber mitzuteilen, dass Sie „die Grippe“ haben und bis Montag „auszukurieren“ beabsichtigen. Nein, ich meine die „richtige“, virusgestützte Influenza. Wir haben über sie Widersprüchliches gelernt: Einerseits, dass es sich um eine Seuche handele, die gesellschaftlich integriert und eingearbeitet ist in die wirtschaftlichen, emotionalen und familiären Abläufe des Standorts Deutschland, sodass ambitionierte Prävention (Impfpflicht, Maskenpflicht, Isolation) vermieden werden kann. Im mittleren Management war in der hochinfektiösen ersten Phase der Influenza seit jeher statt der Abstandspflicht eine Arbeitsplatz-Anwesenheitspflicht vorherrschend, wodurch Pflichtgefühl und Opferbereitschaft der Betroffenen bezeugt wurden.
Die Zahl der durch Influenza verursachten Todesfälle ist derzeit Gegenstand verbreiteter empirischer Erörterungen. Mal hört man von 250.000 Toten (in Europa), mal von durchschnittlich 25.000 (in Deutschland) pro Jahr und „Welle“. Tatsächlich lag die Zahl im schlimmen Jahr 2012/2013 hierzulande wohl bei ungefähr 20.000 und in milden Jahren knapp über null (nachgewiesenen Fällen). Die Frage, ob man mit oder an Influenza starb, hat damals keine Talkshow-Redaktion erregt.
Ich erwähne das, weil die Influenza nun als Vergleichsmaßstab für Covid-19 herhalten muss. Zuletzt las man am 25. April in einem „Gegenentwurf zur Strategie“ genannten Aufruf von sechs unter der Kollektivbezeichnung „Prominente“ versammelten Autoren (SPIEGEL, 24.04.): „(Es) … sterben im Zusammenhang mit Influenza-Infektionen allein in Deutschland bis zu 25.000 Menschen jährlich… Dieses Risiko nehmen wir als Gesellschaft hin, ohne über Lockdowns oder auch nur eine Impfpflicht nachzudenken – es ist der unausgesprochene Preis der Freiheit und des wirtschaftlichen Wohlstands.“
Man könnte noch dazu sagen, dass sich „bis zu 25.000“ Tote binnen einem Jahr aus einer Zahl von vermutlich 15 bis 20 Millionen Infizierten ergaben, wohingegen die bislang 5000 Covid-19-Toten das traurige Resultat von 150.000 nachgewiesenen Infektionen innerhalb von zehn Wochen sind. Das führt trotz Unsicherheiten per Dreisatz bei 15 Millionen Corona-Infizierten zwanglos zu einer Todeszahl von 500.000. Wenn von allen intensivmedizinisch Behandelten 33 Prozent sterben, ergäbe sich eine Kapazitätsanforderung von 1,5 Millionen, knapp 2 Prozent der Gesamtbevölkerung. Das liegt so ungefähr auf dem Niveau der Hamburger Cholera-Epidemie von 1892 und dürfte als „unausgesprochener (!) Preis der Freiheit und des Wohlstands“ nicht mehr durchgehen. Die Zahl von (nur) 500.000 Toten ließe sich auch nur erreichen, wenn die gesamte Infrastruktur und (Über-)Lebenskultur des Landes auf das Programm „Intensivmedizin“ umgestellt würden – was nicht realisierbar ist.
Die Frage ist also, was der redundante Influenza-Hinweis soll. Er rührt aus einer Phase, in der die „neuartige Krankheit“ mit dem Begriff „Grippesymptome“ beschrieben wurde, um den Menschen eine Analogie zum in Heinsberg, Starnberg und China beheimateten Ungemach zu vermitteln und ihre Unruhe zu beruhigen. Wir erinnern uns an die Standardbotschaften der Monate Januar und Februar 2020: „Ich warne vor übertriebener Panik“ und „Vorsicht ja, aber keine Panik“, die im März von der Virologenmitteilung „Wir stehen mit dem Rücken an der Wand“ (Kekulé, 25.03.) abgelöst wurde. Nun, da wir die Panik schon wieder hinter uns haben, sind alle stolz aufeinander, weil Deutschland so „frühzeitig und konsequent“ reagiert habe, anders als manche Versager anderswo.
Kennen Sie die Krankheitssymptome „Fieber, Kopfschmerzen, Gliederschmerzen und Müdigkeit“? Das Vorliegen dieser Symptome über fünf bis zehn Tage deutet auf Influenza oder Covid-19 hin. Es deutet freilich auch auf weitere interessante Infektionen hin: Fleckfieber, Typhus, Ebola oder Borreliose zum Beispiel. Hätte man im Februar 2020 verbreitet, Covid-19 erkenne man an „Ebola-ähnlichen Symptomen“, wäre das Gewicht des angeblich unausgesprochenen Preises des Wohlstands vielleicht anders geschätzt worden. Wir lernen: Der Mensch, die Bundesregierung, die Virologen und die Wirtschaftsweisen suchen sich die Analogien, die sie brauchen.
Nun also erneut Grundsatzfragen. Was ist schlimmer: Desinfektionsmittel spritzen oder „Orgie“ sagen? Ist das Eis dünn, mittel dünn oder extrem dünn? Wollen wir vor „übertriebener Sorglosigkeit“ warnen, oder möchten wir sie gar empfehlen? Reicht die Zulassung von 20 Gottesdienstbesuchern dem Grundrecht der Religionsausübungsfreiheit?
Strategien
Wenn Prominente eine gemeinsame „Gegenstrategie zur aktuellen Strategie“ entwickeln, ist das gut, ein Erfolg aber nicht sicher. Zunächst: Was ist und was bedeutet eigentlich die aktuelle Strategie? Das beantwortet inzwischen jeder für sich; der Platz der Kolumne reicht selbst für Kurzzusammenfassungen nicht. Jedenfalls ist seit Kurzem alles ein bisschen aufge-lockt, was sich sprachregelungsmäßig als „Einstieg in den Ausstieg“ darstellen lässt, obwohl es sich in Wahrheit um einen gefühlten Ausstieg aus dem Einstieg in die „Corona-Zeit“ handelt. Nachdem über Ostern vertieft über Grundrechte und Gewaltenteilung nachgedacht wurde und praktisch alle Bevölkerungsgruppen zu dem Ergebnis gelangt sind, dass gerade sie ungerecht und grundrechtsverletzend betroffen seien, erfolgt nun die „Öffnung“ aus dem Geist landeselterlicher Bürgernähe.
Zum Ausgleich müssen alle ein Stofftuch vors Gesicht binden, das „Maske“ genannt wird, damit sich der befreite Baumarktbesucher wie ein Intensivmediziner fühlt. Wenn das RKI mitteilen würde, auch durch mitternächtliches Essen von Knoblauch lasse sich „ein gewisser Schutz Dritter“ erreichen, wäre das richtig, obwohl das nicht vom Knoblauch, sondern von der Einsamkeit des Verspeisens käme. Das Virus ist kein Vampir, und das Stofftuch kein Knoblauch. Aber ein symbolisch-dekoratives Element dürfte auch ihm innewohnen. Trotzdem ist es allemal besser, als intravenös Sagrotan zu spritzen. Der Rest: Die Freiheit zur Demonstration, zur Urlaubsreise, zum Massengottesdienst und zur schweißtropfensprühenden Arbeit ist noch immer nicht grenzenlos. Kein Antikörper-Schnelltest in Sicht, keine Herde zum Schutz; und da es keinen Impfstoff gibt, führen wir eine spannende Diskussion über eine fiktive Pflicht, ihn zu benutzen.
Quelle : Spiegel-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Ein US-Soldat bei einer Übung zur Reaktion auf eine schmutzige Bombe 2011
- GemeinfreiHinweise zur Weiternutzung
- File:A Soldier with Charlie Company, 4th Battalion, 118th Infantry Regiment, 218th Maneuver Enhancement Brigade, drives a Humvee while responding to a simulated dirty bomb attack during Exercise Palmetto Response 110612-A-DH163-045.jpg
- Erstellt: 12. Juni 2011
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Unten — Thomas Fischer auf der re:publica 2016