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Erstellt von Redaktion am Freitag 1. September 2017

„Ob man ihn mag oder nicht: Deniz ist ein Journalist.“

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„Bei all dem Lärm draußen höre ich nur einem Klang zu: Das ist immer noch Deniz’ Lachen.“ Ein Brief von Dilek Mayatürk-Yücel an die Kritiker ihres Mannes.

DILEK MAYATÜRK-YÜCEL, 2017-09-01

Hast du ein bisschen Zeit? Dann will ich dir was erzählen.

Über meinen Mann, Deniz Yücel, wird so viel und so laut gestritten, dass man leicht vergisst, worum es dabei eigentlich geht. Und beide Seiten in diesem Streit scheinen einander immer weniger zu verstehen.

Darum will ich mich mit diesem Text an Menschen wenden, die es richtig finden, dass Deniz im Gefängnis sitzt, die nicht verstehen können, dass die türkische Regierung dafür so kritisiert wird. Wenn du zu diesen Menschen gehörst, dann richtet sich dieser Text direkt an dich. Und wenn du nicht zu ihnen gehörst, dann verstehst du vielleicht etwas besser, was ich denke und fühle, wenn ich diesen Streit beobachte und warum ich mit diesem Text eine andere Sprache finden möchte.

Es ist ein Schrei, mit dem ich die Mauer des Schweigens durchbrechen will. Verschließ’ deine Ohren nicht. Hör mir zu.

Versprich mir zuerst, dass du dich von deinen Vorurteilen freimachst, von allem, woran du unhinterfragt glaubst und dann einfach nur zuhörst. Fürchte dich nicht vor mir, hasse mich nicht, sei nicht wütend auf mich, sondern hör nur zu. Egal, ob du mich magst oder nicht, hör zu. Hör mich an.

Leg deine Vorurteile ab, hör mir zu

Gern hätte ich diesen Text anonym veröffentlicht, wenn das irgendwie möglich gewesen wäre. Damit du mich in deinem Kopf nicht gleich als die Frau von Deniz Yücel abspeicherst. Denn ich wünschte, dass du beim Lesen weder von der Vorannahme beeinflusst wird, dass seine arme Autorin Unterstützung braucht, noch von vorgefasster Ablehnung. Ich würde gern einen Text vorlegen, der von Deniz losgelöst und unabhängig von mir ist.

Ich habe diesen Text auf dem Weg zu einem Ort angefangen, zu dem ich jeden Montagmorgen um 6.30 Uhr aufbreche und der sich gewaltsam in unser Leben gedrängt hat: auf dem Weg zum Gefängnis. Ich wünschte, du würdest einmal erfahren, wie es ist, als Besucher an diesen Ort zu kommen. Doch egal wer du bist, selbst wenn dein Herz von widersinnigem Hass verhärtet ist, niemals würde ich dir wünschen, dass jemand, den du liebst, unrechtmäßig hier gefangen gehalten wird.

Nur um mich zu verstehen wäre es gut, wenn du einmal diese Erfahrung gemacht hättest. Das ist alles. Denn dann würdest du verstehen, was das Wort „unrechtmäßig“ bedeutet. Du würdest verstehen, was es heißt, deine gesamte Energie für einen Kampf mit der Anstaltsleitung darüber zu verwenden, ob du deinem Mann bunte Bettwäsche mitbringen darfst oder nicht (einen Kampf, den du verlieren wirst). Du würdest verstehen, dass Justiz keine willkürliche Angelegenheit sein darf, die jeden Menschen behandelt, wie es ihr gerade passt.

Ein Spind für unsichtbare Dinge

Weißt du was es heißt, deine Traurigkeit in einem Spind wegzuschließen?

Im Gefängnis gibt es Schließfächer für mitgeführte Gegenstände. Dort, wo Besucher registriert werden und ihre Besucherausweise erhalten. Dort, wo ich mich dem vorletzten Iris-Scan unterziehen muss, bevor ich zu Deniz darf. Handys, Schlüssel und Ähnliches muss man sowieso schon am Eingang abgeben. Die Schließfächer hier hinten sind für Kleingeld, Uhren und so weiter. In dieses Fach lege ich immer eine Zigarette, die ich direkt nach dem Besuch rauche. Das sind die sichtbaren Dinge.

Aber es gibt auch unsichtbare Dinge, die ich hier wegschließen muss, bevor ich weitergehe. Meine Schlaflosigkeit, meine Müdigkeit, meine Krankheiten wenn ich welche habe, und meine Beklemmungsgefühle schließe ich in diesem kleinen Spind ein, bevor ich Deniz besuche. Damit ich vor ihm ausgeruht wirke, selbst wenn ich die beiden Nächte zuvor nicht schlafen konnte. Dann hinterlasse ich meinen Fingerabdruck auf der Trennscheibe, die zwischen Deniz und mir steht und zwischen Deniz und der Freiheit, kehre nach Hause zurück und schlafe. Seit Monaten vergeht jeder meiner Montage auf diese Weise. Kannst du dich in meine Lage versetzen?

Unschuldsvermutung

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Ich möchte dir jemanden vorstellen. Ihr Name ist Unschuldsvermutung. Hör mal, was sie sagt:

Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.“

Die Unschuldsvermutung wird in der türkischen Verfassung in den Artikeln 15 und 38, in der Europäischen Menschenrechtskonvention in Artikel 6 und im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte der Vereinten Nationen im Artikel 14 behandelt. Die Unschuldsvermutung wird aus dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit abgeleitet und dient sowohl der Wahrung von Würde und Ansehen der Person als auch der Gewährleistung eines fairen Verfahrens.

Die Freiheit der Gedanken

In der 1982 vom Militärregime erlassenen, bis heute gültigen Verfassung der Türkei finden sich zwei Artikel zur Gedanken- und Meinungsfreiheit. Der erste ist Artikel 25 der Verfassung:

Jedermann genießt Meinungs- und Überzeugungsfreiheit. Niemand darf, aus welchem Grund und zu welchem Zweck auch immer, zur Äußerung seiner Meinungen und Überzeugungen gezwungen werden; er darf wegen seiner Meinungen und Überzeugungen nicht gerügt oder einem Schuldvorwurf ausgesetzt werden.“

Damit wird die Freiheit, seine Gedanken zum Ausdruck zu bringen, verbrieft. Der Artikel 26 regelt die Freiheit der Äußerung und Verbreitung der Meinung:

Jedermann hat das Recht, seine Meinungen und Überzeugungen in Wort, Schrift, Bild oder auf anderem Wege, allein oder gemeinschaftlich zu äußern und zu verbreiten. Diese Freiheit umfasst auch die Freiheit des Empfangs oder der Verbreitung von Nachrichten und Ideen ohne Eingriff öffentlicher Behörden.“

Isolation ist gegen das Wesen des Individuums

Recht, Rechtsstaatlichkeit, faires Verfahren, Justiz, Gerechtigkeit… Du kennst diese Worte doch auch, oder? Es sind Werte, die nicht nur Deniz heute braucht. Wir alle werden sie eines Tages brauchen.

Seit 200 Tagen sitzt Deniz in Untersuchungshaft. Er wird isoliert und ist durchgehend alleine. Isolation ist eine Form unmenschlicher Behandlung, die darauf angelegt ist, die körperliche und geistige Gesundheit eines Menschen langfristig zu ruinieren. Ein System, das entwickelt wurde, um den Menschen seiner eigenen Natur und der Außenwelt zu entfremden, bis er zerfällt. Dieses System wurde gegen das Wesen des Individuums entwickelt, es nährt sich von Beschränkungen und hinterlässt beim Menschen nichts anderes als Zerstörung.

Ich interessiere mich nicht für deine politische Einstellung, deine Herkunft, deine Fußballmannschaft oder dein Lieblingsessen. Mir geht es nur darum, dass du ein Mensch bist. Deniz ist, unabhängig davon, ob er mein Mann oder ein Journalist ist, zunächst einmal ein Mensch. Du und ich kommen zusammen auf dieser Grundlage: dass wir Menschen sind. Isolation verstößt gegen unser Menschsein. Das weißt du doch, oder?

Wir sind alle gleich

Quelle : TAZ >>>>> weiterlesen

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Grafikquellen    :

Oben  —    Cosmo – Wir wollen das Meer sehen: Solidaritätsveranstaltung für Deniz Yücel und alle anderen inhaftierten Journalisten gemeinsam mit der Initiative Free Deniz. Ilkay Yücel

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