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Hinter Milchglasim-Neustart

Erstellt von Redaktion am Sonntag 22. September 2019

Die Haasenburg war gestern –
Hinter Milchglas ist heute

Von Von Gareth Joswig und Kaija Kutter

Abgelegen in Brandenburgs Wäldern liegt ein Kinderheim, dessen Methoden an Heime erinnern, die bereits schließen mussten. Die taz sprach mit fünf ehemaligen Heimkindern. Sie berichten von Isolation und abgeklebten Fenstern.

Wir treffen Elvis in einem Wohnprojekt für Straßenkinder im Bahnhof Jamlitz im Süden von Brandenburg. Seit März lebt er dort, hat sich seiner Betreuerin Anett Quint anvertraut. Vorher lebte er anderthalb Jahre in einem Heim namens „Neustart“, betrieben vom Arbeiter Samariter Bund (ASB) in Lübben, gelegen in einem Wald bei Jänschwalde. „Der Aufenthalt dort hat Elvis schwer traumatisiert“, sagt die Sozialpädagogin.

Elvis redet leise, guckt auf den Tisch. „Das ist wie eine geschlossene. Also man sitzt den ersten Monat allein im Zimmer“, berichtet er. Da habe er „Reflexionsaufgaben“ schreiben müssen und ein Namensschild aus Papierkügelchen basteln. „Da ist alles angeschraubt, die Betten und Tische. Die Fenster sind zur Hälfte zugeklebt. Man hat nur einen Schrank. Aber der ist verschlossen“, sagt der junge Mann, als er in Begleitung von Anett Quint mit uns spricht.

Sechs Jahre ist es her, dass nach Recherchen der taz drei Heime der Haasenburg GmbH geschlossen wurden, weil die dortigen Methoden nicht mit dem Kindeswohl vereinbar waren. Der Heimalltag dort sei von „überzogenen, schematischen und drangsalierenden Erziehungsmethoden geprägt gewesen“, sagte die damalige Jugendministerin Martina Münch (SPD) nach Lektüre eines Untersuchungsberichts und entzog die Betriebserlaubnis. Zugeklebte Fenster als Form des Reizentzugs, auch das gab es in der Haasenburg.

Hat sich nichts geändert?

Wir fragen nach. Gab es wirklich zugeklebte Fenster? Elvis sagt: „Na, unten zumindest. Und auf die Heizung darfst du nicht, um rauszugucken. Also den ersten Monat sollst du keinen sehen.“ Erst nach zwei Wochen habe er einmal an die frische Luft gedurft für eine Stunde Sportprogramm. Aber auch das nur in einem Fußball-Käfig, der hinter ihm abgeschlossen worden sei. „Und dann warst du doch wieder im Zimmer“.

Fast das ganze erste Jahr von Elvis’ Aufenthalt spielt sich in und um „Haus 1“ ab, ein beiger Putzbau, in dem laut Zeitungsberichten früher mal die Bundespolizei war. Im ersten Stock ist die Gruppe 1 für die Neuen, im Erdgeschoss die Gruppe 2 für jene, die schon länger da sind. „Da zieht man hin, wenn man das alles verstanden hat“, sagt Elvis. Wir sprechen in den nächsten Wochen mit vier weiteren Jugendlichen, die Elvis’ Schilderung bestätigen. Die Bewohner der Gruppe 1 dürfen nach ihren Aussagen nur in Begleitung der Erzieher ins Freie und sich tagsüber einen Großteil der Zeit nicht ohne Erlaubnis zwischen den Zimmern bewegen.

Elvis, der wie alle ehemaligen Bewohner des Heims in diesem Text in Wirklichkeit anders heißt, ist knapp 1,80 Meter groß, etwas schüchtern und trägt immer eine Mütze. Er weiß noch, was am ersten Tag in Jänschwalde passierte, als er seine Mütze nicht absetzen wollte. Sie hätten ihn deswegen zu zweit fixiert, sagt er. „Sie haben mich auf den Boden gedrückt. Einer hat sein Knie auf meinen Rücken gedrückt und mich festgehalten. Und der andere hat mir die Mütze weggenommen und mich so lange festgehalten, bis ich ruhig war.“ Ob das wehgetan hat? „Ja, klar, das war ein Polizeigriff.“

Er spricht leise. Es fällt ihm nicht leicht, zu berichten. Von dem umständlichen Toiletten-Ritual zum Beispiel. Er erzählt, dass er an seine Zimmertür klopfen musste, wenn er aufs Klo wollte, und dann musste er warten – bis ein Erzieher kommt. Diesen musste er dann um Erlaubnis fragen, für jeden einzelnen Abschnitt seines Gang zur Toilette. Darf er raus auf den Flur? Rein ins Bad? Raus aus dem Bad? Zurück in den Flur? Wieder rein ins Zimmer? Vor jeder Türschwelle eine Frage. Insgesamt sechs, sieben Fragen, um einmal pinkeln zu gehen.

Auch das erinnert an Berichte aus der Haasenburg. Elvis berichtet, dass ehemalige Mitarbeiter von dort in Jänsch­walde arbeiten, „die haben mal drüber erzählt“. Er nennt fünf Namen, einer findet sich auch auf einer alten Mitarbeiterliste, die der taz vorliegt.

Elvis kam erst nach einem halben Jahr im Haus nach unten in die „Gruppe 2“. Auch dort habe er nach allem fragen müssen. „Man hatte so eine Liste zum Abarbeiten“, sagt er. Der letzte Punkt, den man dort erreichen konnte, war „selbstständig gehen“ – sich also im Haus frei zu bewegen, ohne einen Erzieher um Erlaubnis fragen zu müssen.

So ähnlich ging es wohl den „Zöglingen“ in der Dzierzynski-Kommune des sowjetischen Hauspädagogen Makarenko zur Stalin-Zeit. In dem Buch „Beschädigte Seelen“ beschreibt Kulturwissenschaftler Manfred Franz die Lage eines Neuankömmlings so: „Selbst um tagsüber seinen Schlafsaal zu betreten, brauchte er eine schriftliche Erlaubnis“. Und jederzeit konnte ein Kommunarde bei Fehlverhalten auf die „nahezu rechtlose Stufe des Zöglings zurückgestuft werden“.

Zu „Neustart“ gibt es alte Zeitungsberichte. 2013 gewährte das vom ASB-Lübben betriebene Heim einer Reporterin der Märkischen Oderzeitung Einblick. „Neustart ohne Türschlösser“, titelte die Zeitung. Und weiter: „Der Alltag im Heim ist hart, und manche Jugendliche reißen deshalb auch aus. Kein Kunststück, da die Türen offen stehen“. Aber stimmt das noch? Elvis sagt, die Tür zwischen dem Eingang und seiner Gruppe war abgeschlossen. Den Schlüssel hätten die Erzieher.

Als wir Ende August das Jugendministerium konfrontieren, leitet dieses die Anfrage an die Staatsanwaltschaft Cottbus weiter, um dem Verdacht der Freiheitsberaubung nachzugehen. Zudem seien Mitarbeiter des Jugendministeriums vor Ort gewesen, um den Vorwürfen nachzugehen. Weitere Gespräche mit dem Träger und Prüfungen würden folgen. Es handele sich um eine offene Einrichtung – „jede freiheitsberaubende Maßnahme ist nicht gestattet“. Weitere Nachfragen will die Behörde nicht beantworten.

Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke müsste vertraut sein mit „Neustart“. Auf einem Foto, das die Lausitzer Rundschau am 8. April zeigte, hält der SPD-Politiker einen roten Adler aus Holz in den Händen, den ihm Heimkinder überreichten. „Ministerpräsident vom Projekt ‚Neustart‘ beeindruckt“, lautet die Titelzeile. In dem Text steht, der ASB betreue in Jänschwalde Jugendliche mit „massiven Verhaltensstörungen, die sich Regeln und Normen verweigern“. In dem Projekt lerne der Nachwuchs, seine „Defizite zu beseitigen“. Wie die Mitarbeiter dies angingen, habe Woidke imponiert.

Elvis sagt, man sollte das Heim zumachen: „Ich war aggressiver danach als davor.“ Irgendwann stieg er in die Gruppe 3 im Nachbarhaus auf, das mehr Freiraum bietet. Aber nachdem er dort weglief, kam er zurück in die Eingangsphase. Nach anderthalb Jahren schließlich flog Elvis raus, wie er berichtet, nachdem er sich mit einem Erzieher geprügelt habe. Das Jugendamt findet für den 17-Jährigen eine normale Jugendwohnung in Cottbus. Doch nur bis zu seinem 18. Geburtstag. Dann steht der Junge ohne Obdach da.

Das war im März. So kam Elvis nach Jamlitz zu dem alternativen Straßenkinder-Projekt des Trägers „Karuna“, das ganz anders arbeitet. Anett Quint mischt sich ins Gespräch ein. „Ist das, wenn du jetzt darüber erzählst, Elvis, ist das für dich schwer?“ – „Ja“, antwortet er, „weil ich weiß, wie es den anderen da geht, die jetzt da sind. Die sitzen da im Zimmer.“

Auch in der Gruppe 2 blieb das Leben sehr reglementiert. Für die Teilnahme am Spieleabend, ein längeres Telefonat mit den Eltern oder dafür, sich zu schminken oder zu „stylen“, musste mit „Chips“ bezahlt werden, die die Jugendlichen sich durch Wohlverhalten verdienten. Alle zwei Stunden, erinnert Elvis, habe er einen Chip „anmelden“ können. Danach habe der Betreuer ihm gesagt, ob er ihn verdient hat oder nicht. Normal gab es drei Minuten Telefonzeit die Woche, berichtet er. „Hat man zehn Chips, darf man 13 Minuten telefonieren“.

Annet Quint regt das alles auf. „Am meisten dieses Klopfen“, sagt sie, „dann nicht zu wissen, wann kommt der jetzt eigentlich. Wie viel Zeit man dort verwartet.“ Auf Toilette gehen sei ein Grundbedürfnis des Menschen. „Das kann nicht reglementiert werden.“

JänschwaldePfarrhaus.jpg

Wir entschließen uns, selber zu schauen, ob es Milchglasfolie gibt. Ende Juni fahren wir nach Jänschwalde in die Niederlausitz. Den Besuch kündigten wir bei der Heimleitung nicht an, weil wir fürchten, dass die Milchglasfolie schnell verschwinden könnte.

Wir parken anderthalb Kilometer entfernt, um vom Waldrand einen Blick auf die Fassade zu werfen. Die brütende Sonne scheint durch die Kiefernwipfel, hier und da liegen leere Flaschen auf dem trockenen Waldboden. Spaziergänger gibt es hier nicht, nur Jäger-Hochsitze und zugewachsene Wege. Im Umkreis befindet sich kaum etwas außer einem ehemaligen Militärflughafen und einer Tagebau-Marslandschaft. Wir klettern den kleinen Hang hinauf und sehen zwischen Tannen und Birken rote Dachziegel. Das ist das Heim.

Wir sehen den beigen Putzbau vom Gruppentrakt eins und zwei. Obwohl wir keine 100 Meter vom Haus entfernt sind, herrscht Stille. Kein Kind ist am frühen Nachmittag draußen. Es ist, wie Elvis gesagt hat: Im ersten Stock sind vier Zimmerfenster verklebt. Drei je zur Hälfte, ein viertes komplett. Wir machen Fotos.

Das Heim hat eine Facebookseite. Wir lesen dort einen Chat aus dem Jahr 2016. Ehemalige befürworten rückblickend die Härte und sorgen sich, dass ihre Nachfolger zu viel Luxus haben, etwa eigene Handys. Eine junge Frau fragt dort die Heimleitung, „ob es immer noch so ist, dieses Aufnahmeverfahren mit dem Aufnahmezimmer wo man voll abgeschirmt von allem ist“. Darauf antwortet die Heimleitung, es gehe jetzt im Nachbarhaus „lockerer“ zu. „Aber es gibt immer noch Haus 1 und das Konzept hat sich dort nicht wesentlich verändert.“

Quelle        :      TAZ         >>>>>         weiterlesen

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Oben         —         KAP-Luftaufnahme auf Höhe Friedhof mit Blickrichtung nach Nordost auf den Ortskern von Horno (Forst (Lausitz)) im November 2013

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