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Weihnachten in der Familie

Erstellt von Redaktion am Freitag 22. Dezember 2017

Eine rheinische Weihnachtsgeschichte

File:Bundesarchiv B 145 Bild-F038543-0006A, Bonn, VW-Käfer mit Weihnachtsbaum.jpg

Von René Hamann

Eie schönste Zeit des Jahres sind die Sommerferien. Da reist man meist auch; aber man reist eben nicht heimwärts, zurück in die Vergangenheit, sondern in ein eine Flugreise entferntes Paralleluniversum, in dem die Städte schöner sind und das Wetter immer gut und die Strände hellgelb und das Meerwasser türkis und nirgends ein Nadelbaum, schon mal gar nicht im Haus.

Meine Eltern sind geschieden, sie wohnen nur etwa zehn Kilometer von einander entfernt, aber in zwei unterschiedlichen Staaten. Sie haben eine Grenze zwischen sich gezogen. Praktischerweise war die Grenze schon vorher da; Mutter ist einfach von hüben nach drüben gezogen, ein Dorf weiter, von der deutschen auf die niederländische Seite. Mein Vater ist in Deutschland geblieben, praktischerweise. Wobei der Landstrich, in dem er wohnt, nennen wir ihn historisch korrekt das südliche Hamaland, auch einmal Holland gewesen ist – nach 1949, zu der Zeit, in der meine Mutter dort geboren und aufgewachsen ist. Im Zuge einer ausgleichenden Rückgliederung wurde der kleine Landstrich mit seinen 10.000 Bewohnern im Jahre 1963 über Nacht wieder deutsch – in der berühmt gewordenen „Butternacht“, als Lkws aus allen Teilen der Niederlande in den Ort fuhren, beladen mit zollpflichtigen Waren. Um Mitternacht wurden so auch die rollenden Butterberge deutsch, ohne dass Zoll erhoben werden konnte.

Butter im Sommer, Pfeffernüsse und Lebkuchen zur Weihnacht. Eine Kleinstadt, eigentlich ein Dorf, mit ausgestorbenen Einkaufsstraßen, in denen leuchtende Sterne hängen. Geschmückte Wohnzimmerfenster, Lichterketten in den Vorgärten, vor einem Reihenhaus ein aufgeblasener Schneemann aus Vollplastik. Eine Plastiktanne vor einer mobilen Pommesbude am Marktplatz.

In jedem Dorf steht eine Kirche, im Dorf meiner Eltern stehen drei. Zwei katholische (davon eine Stiftskirche), eine evangelische. Der mütterliche Zweig hat sich stets als sehr katholisch verstanden; mein Vater mit seinem gemischt rheinisch-hamburgerischen Arbeiterklassenhintergrund musste da wie ein Fremdkörper wirken. Aber via Karneval, Verein, Dorfkneipe findet man hier schnell Anschluss – und das Katholische wurde von den niederländischen Einwanderern, die inzwischen fast die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, nach Kräften unterwandert.

File:Köln Weihnachten am Dom 3.JPG

Aber Weihnachten, da geht es in die Messe. Oder nicht?

Neulich fragte jemand, wann ich zuletzt aus freien Stücken eine Messe besucht habe. Antwort: Ich glaube, freiwillig noch nie. Doch, fiel mir dann ein, einmal, aus Recherchegründen: Es war derselbe triste Stumpfsinn wie in meiner Kindheit. Eine Abfolge von sitzen, knien, aufstehen; Litanei, Liturgie, natürliches Licht und lahmes Georgel. Das mag meditativ sein oder eben lust- und geisttötend. Dörflich und weltfremd.

Christmette, die Messe an Heiligabend: Konfliktproben zwischen Mutter und mir. Jedes Jahr habe ich aufs Neue probiert, der Herumsteherei ein Schnippchen zu schlagen und der Messe zu entgehen; was aber nur dazu führte – meine Mutter war selbst nicht die Organisierteste –, dass wir ganz hinten stehen mussten, weil wir wieder einmal zu spät gekommen waren. Mein Vater hingegen hatte es meistens geschafft und durfte zu Hause bleiben. Einer musste sich ja ums Essen kümmern.

„All the churches filled with losers

psycho or confused. I just want

to hold the divine

in mind. And forget

all of the beauties wasted“

Of Montreal, Gronlandic Edit

Als ich vor zwei Jahren heimgefahren war, hatte ich Heiligabend bei Muttern verbracht. Es war nett. Es gab ein kleines Festmahl, Rotwein, Gespräche. Geschenke, aber nicht zu viele. Später hat sie mich nach Hause gefahren. Also, von ihrem niederländischen Dorf über die Grenze ins deutsche. Ich stellte das Radio an, der Deutschlandfunk übertrug eine Christmette, live. Ich ließ den Sender stehen. Was soll’s, ist ja Weihnachten. Bis Mutter sagte: Such mal einen anderen Sender, ich kann mir das nicht anhören. Von der Kirche habe ich fürs Leben genug.

Die Kirche, die Nation.

Vater leitet eine Kettennachricht über Whatsapp weiter: „Hey, Angela Merkel!!! Hier in Deutschland haben wir Familien und Kinder, die nicht ausreichend zu essen haben. Alte Menschen, die schlecht behandelt werden (auch die, die im Krieg den Arsch hingehalten haben), Patienten, die nicht ausreichend behandelt werden. Menschen, die bis 67 arbeiten gehen sollen und junge Leute, die keine Arbeit haben. Aber wir geben Milliarden (!!!) für andere Länder aus, ohne zuerst dem eigenen Volk zu helfen. Wetten dass 99 % von Euch sich nicht trauen dies zu kopieren… ARMES DEUTSCHLAND !!!!!!!!!!!! Ich trau mich, wer noch!“ (Rechtschreibung, Kommasetzung wie im Original.)

Die handelsübliche Melancholie weißer Männer jenseits der 40, der 50, der 60, der 70. Jammernde, selbstmitleidige Wesen. Im Seniorenheim sitzen sie im Speiseraum, der durch frequentes Piepen der Kaffeemaschine durchgetaktet wird. Niemand redet. Alle sitzen schweigend am Tisch. Hat sich erledigt, das Reden. Am Ende wartet die Wortlosigkeit, wortlos geht es auf die Zielgerade, wortlos geht es ins Grab hinab. Don’t fear the Reaper. Der Nachbartisch, keine 5 Meter entfernt, scheint so weit wie die nächstliegende Insel, deren Umrisse man bei guten Wetter gerade noch ausmachen kann.

Ein loses Winken.

Quelle     :      TAZ          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen    :

Oben   —    Attribution: Bundesarchiv, B 145 Bild-F038543-0006A / Mehmet, Sonal / CC-BY-SA 3.0

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Unten   :   

Description
Deutsch: Ruhe am Heiligen Abend
Date
Source Own work
Author Friedhelm Dröge
Camera location 50° 56′ 23.68″ N, 6° 57′ 29.07″ E Kartographer map based on OpenStreetMap. View this and other nearby images on: OpenStreetMapGoogle Earth info

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I, the copyright holder of this work, hereby publish it under the following license:
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