Gewalt in der Coronakrise
Erstellt von Redaktion am Samstag 23. Mai 2020
Kinderleid, so oder so
Eine Kolumne von Thomas Fischer
Präventionsmaßnahmen gegen die Epidemie haben, so wird behauptet, Leid über die Kinder gebracht. Wie viele Opfer-Eltern in Wahrheit Täter-Eltern sind, bleibt unklar. Wir fragen nach.
Moral
Muss man, wenn man einen Text über Gewalt gegen Kinder veröffentlicht, zunächst versichern, dass man weder ein Freund der Gewalt noch der Gewalttäter, weder ein Geringschätzer noch ein Nichtversteher des Leids ist, und dass man die Apologeten der „ausrutschenden Hand“ verachtet? Die Frage zu stellen ist die halbe Antwort. Die andere Hälfte dieser Einleitung besteht aus der Feststellung, dass die Antwort nervig, langweilig und verlogen ist. Denn sie ist vor allem demonstrativ. Sie zeigt nicht den hohen Stand des Kinderschutzes in dieser Welt, sondern den Stand des Bedürfnisses von Erwachsenen, das Maß ihrer moralischen Vorbildlichkeit vorzuzeigen. Auf vertrackte Weise ist das verwoben mit der kindlichen Bedürftigkeit der Erwachsenen selbst, jedenfalls des medial sichtbarsten Teils von ihnen, und mit den gelegentlich bizarren Formen ihres Interesses an Kindern. Überwölbt wird alles von der Glocke einer Rationalität, die mit Begriffen der Demografie, des Rechtsgüterschutzes, der Ökonomie und der psychischen Gesundheit hantiert.
Kinderleid
Wir haben in den vergangenen zwei Monaten viel gehört und gelesen über das Leben der Kinder an sich, die Bedingungen ihrer Gesundheit und die Faktoren ihrer seelischen Krankheiten, und über die Anforderungen, welche die Welt erfüllen muss, um ihnen einen gelingenden Lebensstart zu ermöglichen. Die Anzahl der Experten für Kindeswohl, denen immer noch Neues einfällt, ist seit Frau Dr. Merkels Einkerkerung des deutschen Volkes nochmals gestiegen, und die durch eigene und fremde Lebenszeit erfahrenen alten rosafarbenen Frauen und Männer durften täglich erfahren, das Spielen in Wald und Flur sei gesünder als das Surfen auf YouTube.
Stress“, dessen Ergründung wir glatt verpasst hätten, wenn ihn uns nicht rührende Inhaltsangaben sensationeller Erkenntnisse „amerikanischer Forscherinnen“ nahegebracht hätten, einschließlich der Erkenntnis, dass das Leiden der Kleinen bei sechs Wochen Corona-„Lockdown“ ähnliche Folgen habe wie das der Kinder in den rumänischen Waisenhäusern der Ceaucescu-Diktatur. Nun überlegen wir, welch sadistischer Plan hinter der Ordnung einer Gesellschaft stecken mag, die seit drei Jahrzehnten ihre allerliebsten Kleinen systematisch vor Bildschirmen vereinsamt und zum Ausgleich dafür mit Outlet-Stores für die Petit-Couture zuschüttet und mit Teddybär-Bergen auf den Gräbern der Schlagzeilen-Opfer. Und wer daran wohl schuld sein könnte, dass Eltern keine Zeit haben und ihren Kindern immer ähnlicher werden. Und wer davon gewusst haben mag. Die gehören doch alle eingesperrt! Und zwar mindestens lebenslang. Plus Sicherungsverwahrung. Oder?
Misshandlung
Am 15. Mai veröffentlichte die „Neue Osnabrücker Zeitung“ (NOZ) unter der Überschrift „Teils schwere Gewalt gegen Kinder“ ein Interview mit dem Leiter der „Kinderschutz-Hotline“ des Bundesfamilienministeriums. Die hierzu von dpa veröffentlichte Meldung:
Die Zahl der Anrufe bei der … Kinderschutzhotline hat während der Coronakrise stark zugenommen. Allein in den ersten beiden Mai-Wochen sei das Hilfsangebot in mehr als 50 Verdachtsfällen durch medizinisches Personal genutzt worden, sagte der Teamleiter der Hotline, Berthold, … der Neuen Osnabrücker Zeitung. Das seien fast so viele Fälle gewesen wie im gesamten April. ‚Wir werden teilweise wegen Verletzungen kontaktiert, die sonst nur bei Zusammenstößen mit Autos auftreten“, sagte Berthold. Es gehe dabei etwa um Knochenbrüche oder Schütteltraumata. Betroffen seien besonders Kleinstkinder, die noch nicht selbst laufen können. ‚Da liegt der Verdacht nahe, dass den Kindern massive Gewalt zugefügt wurde‘, sagte der Kinderarzt…
übernahmen zahlreiche Medien in ganz Deutschland praktisch wörtlich unter verschiedenen Überschriften:
Mediziner berichten von massiver Gewalt gegen Kinder“ („Tagesspiegel“); „Dramatischer Anstieg der mutmaßlichen Gewalt… Die Kinderschutz-Hotline des Familienministeriums läuft heiß“ (HNA). Das „Ärzteblatt“ wusste zu berichten, dass „der rein virologische Blick auf die Dinge nicht ausreicht“.
auf erhebliche Gewalteinwirkung hindeuten. Ob eine Zunahme um etwa 25 nicht näher bezeichnete Verdachtsfälle in zwei Wochen ausreicht, um die überaus düsteren Prognosen von allerlei „Experten“ aus dem April zu belegen, scheint mir allerdings fraglich. Erst recht dürften Meldungen aus den ersten beiden Mai-Wochen keine belastbare Auskunft darüber geben, welche Feststellungen „nach dem Ende der Maßnahmen“ getroffen werden können. Wir sind, liebe Schlagzeilen-Freunde, von valider Empirie Lichtjahre entfernt.
Bezeichnen Sie, verehrte Leser, den Sachverhalt, dass ein Kraftfahrzeug ein Kind an- oder überfährt, für gewöhnlich als „Zusammenstoß“? Mir erscheint diese Bezeichnung eher schräg. Haben Sie in Ihren Leben schon einmal einen Knochenbruch erlitten? Wenn ja: Wie oft, und durch welche Ereignisse? Wie viele Sportunfälle, Stürze, Haushaltsunfälle waren darunter? Und wie viele „Zusammenstöße mit Autos“? Ich bezweifle auch, dass es sich beim „Schütteltrauma“ um eine Verletzung handelt, die für einen Zusammenstoß mit einem PKW typisch ist, vor allem bei „Kleinstkindern, die noch nicht laufen können“. Ich habe in meinem Beruf als Strafrichter viele Fälle von (häufig tödlichen) Schütteltraumata bei Kleinstkindern gesehen und viele unglaubhafte Erklärungsversuche von Täter(innen) gehört. Zusammenstöße mit Autos gehörten definitiv nicht dazu.
Natürlich kann man sagen: Eine etwas schräge Beschreibung ist egal, denn die Verletzungen sind ja in jedem Fall gravierend. Es geht aber um etwas anderes: Um ein bewusst verwendetes, „Stimmung“ erzeugendes Bild: Eine grausame Maschine übt vernichtende Gewalt auf „Kleinstkinder“ aus. Da werden die mitleidheischenden gestressten „Homeoffice“-Opfer zu mitleidlosen Knochenbrechern und Totschüttlerinnen. Und das ist die Schuld der „Maßnahmen“:
„Diese klare Nebenwirkung der Lockdown-Maßnahmen war zu erwarten, auch wenn die Maßnahmen aus epidemiologischer Sicht sinnvoll gewesen sein mögen“, so Berthold.
So kann man das machen. Intellektuell, kriminologisch und emotional überzeugend ist es nicht. Es hat aber schöne Effekte auf die gepeinigte Seele einer über die Maßen kinderliebenden Gemeinde von Grundrechtsfreund und Wirtschaftshochfahrer. Denn selbstverständlich sind es ja nicht „die Frauen“, die ihre Kinder malträtieren, und nicht „die Familien“. Also bestimmt nicht „Wir“, sondern immer die anderen: Die „mehr als 50“ Ausgerasteten, die Asozialen. Waren die eigentlich im Homeoffice? Oder schon vorher arbeitslos? Armin L., Ministerpräsident, forderte am 20. Mai im TV-Interview die Bürgerinnen und Bürger auf, sich vorzustellen, wie es wohl sein müsse, als Kind, „in einer Zwei- oder Dreizimmerwohnung“. Eine grausame Vorstellung, nicht wahr?
Kinderrechte
Quelle : Spiegel-online >>>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Army Chief of Staff Gen. George W. Casey Jr. celebrates the Army’s 234th Birthday with children of Fort Detrick’s Forest Glen Annex Child Development Center in Maryland. See more at www.army.mil Gen. Casey reads ‚Sam the Army Dog‘ to Army kids
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Unten — Thomas Fischer auf der re:publica 2016