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Erstellt von Redaktion am Montag 2. März 2020

Deutschlands Krankenversicherung ist eine Zweiklassenmedizin

Quelle     :    INFOsperber CH.

Von Bernd Hontschik – Chirurg und Publizist.

In Europa kennt allein Deutschland Privatversicherte in Arztpraxen. Die rund zwei Millionen Beamten zahlen praktisch keine Prämien.

Red. Deutschlands Krankenversicherung ist Europas unsozialste. Jeder zehnte Einwohner ist ausschliesslich privat versichert (auch ambulant) und trägt zur sozialen Grundversicherung nichts bei. Die rund zwei Millionen privatversicherten Beamten zahlen fast nichts, sondern lassen ihre Gesundheitsversorgung von den Steuerzahlenden finanzieren. Der deutsche Chirurg und Publizist Bernd Hontschik hat die Grundversicherung in verschiedenen Staaten Europas verglichen.

Allein unter Nachbarn

Laut einer Bertelsmann-Studie könnten die gesetzlichen Krankenkassen neun Milliarden Euro mehr einnehmen und den allgemeinen Beitragssatz um 0,7 Prozent senken, wenn alle Bundesbürgerinnen und Bundesbürger gesetzlich krankenversichert wären. In Deutschland sind aber etwa zehn Prozent ausschliesslich privat versichert. Diese 8,7 Millionen verdienen im Durchschnitt über fünfzig Prozent mehr als die 73 Millionen gesetzlich Versicherten und sind im Vergleich gesünder. Es heisst, sie würden eine privilegierte medizinische Behandlung erhalten, man spricht von einer Zwei-Klassen-Medizin.

Die Besserverdienenden, die ausserdem auch noch die Gesünderen sind, haben sich aus unserem Solidarsystem verabschiedet. Wie ist das eigentlich in unseren Nachbarländern geregelt? Die entscheidenden Fragen sind: Müssen dort alle an einem Solidarsystem teilnehmen? Wie wird es finanziert? Wie sind die Leistungen?

Österreich

In Österreich besteht für ausnahmslos alle Einwohnerinnen und Einwohner eine Krankenversicherungspflicht in regionalen Gebietskrankenkassen. Die Beiträge richten sich nach dem Einkommen und werden zur Hälfte von Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden getragen. Familienmitglieder sind überwiegend kostenlos mitversichert. Die Leistungen aller Kassen sind gleich, Konkurrenz zwischen Krankenkassen gibt es nicht. Es existieren vielfältige Möglichkeiten der privaten Zusatzversicherung.

Schweiz

Auch in der Schweiz besteht Krankenversicherungspflicht für alle. Die Beiträge sind unabhängig vom Einkommen pro Kopf gleich hoch, eine kostenlose Mitversicherung von Familienmitgliedern gibt es nicht. [Red. Als Kompensation für die unsozialen Kopfprämien erhält ein gutes Viertel der Bevölkerung eine individuelle Verbilligung der Krankenkassenprämien. Bund und Kantone geben dafür jedes Jahr rund 4,5 Milliarden Franken aus.] Alle etwa fünfzig privaten Krankenkassen des Landes müssen identische Leistungen einer gesetzlich festgelegten Grundsicherung anbieten, konkurrieren aber um Mitglieder durch möglichst niedrige Tarife. Die acht grössten Kassen haben zusammen einen Marktanteil von über 80 Prozent. Alle diese Versicherer bieten Zusatzversicherungen an.

Frankreich

Auch in Frankreich ist die Krankenversicherung Pflicht für alle. Die Krankenkassenbeiträge werden von Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden anteilig bezahlt, Defizite werden mit Steuermitteln ausgeglichen. Versicherte zahlen ihre Arztrechnungen zunächst selbst und reichen sie anschliessend bei ihrer Krankenkasse zur Erstattung ein. Dabei bestehen Eigenbeteiligungen bis zu 25 Prozent, weswegen die meisten Franzosen private Zusatzversicherungen abschliessen.

Niederlande

Auch in den Niederlanden besteht Krankenversicherungspflicht. Das System ist rein privatwirtschaftlich, aber die Leistungen der etwa 40 privaten Krankenkassen sind gesetzlich genau festgelegt, sodass darüber keine Konkurrenz aufkommen kann. Kinder sind kostenlos mitversichert, Partnerinnen und Partner hingegen nicht. Alle Versicherten zahlen einen gleich hohen Beitrag, der gesetzlich festgelegt ist. Wegen hoher Selbstbeteiligungen sind private Zusatzversicherungen weit verbreitet.

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Dänemark

Auch in Dänemark ist das Gesundheitssystem für alle Einwohnerinnen und Einwohner verbindlich. Hier ist es rein staatlich, die Finanzierung geschieht aus Steuergeldern. Wer in Dänemark wohnt oder steuerpflichtig ist, ist automatisch krankenversichert. Medizinische Behandlungen und häusliche Pflege sind für alle Versicherten kostenlos. Private Vollversicherungen gibt es nicht, nur Zusatzversicherungen zur Abdeckung der Eigenbeteiligungen.

Italien

Auch in Italien ist das Gesundheitssystem für alle in staatlicher Hand. Es wird aus Steuermitteln und Arbeitgeberbeiträgen finanziert. Die medizinische Grundversorgung ist für alle kostenlos. Private Krankenversicherungen gibt es nicht, nur Zusatzversicherungen.

Deutschland

Deutschland ist also das einzige Land weit und breit, das einem Zehntel seiner Bevölkerung die Möglichkeit einräumt, sich mit der privaten Krankenversicherung aus dem Solidarsystem zu verabschieden. Dafür gibt es keinen vernünftigen Grund. Sämtliche unserer Nachbarländer machen das vor. Eine Überwindung unseres zweigeteilten Systems würde zwar einige Probleme aufwerfen, aber diese sind alle lösbar, dafür braucht es nur etwas Zeit und kluge Übergangslösungen. Ärztekammern, Kassenärztliche Vereinigungen und der Beamtenbund malen das grosse Arztpraxissterben an die Wand, wenn den Ärztinnen und Ärzten die privaten Einnahmen wegbrechen. Aber die ärztlichen Einkommen wären in keinerlei Gefahr, denn bislang Privatversicherte würden stattdessen sogleich entsprechende Zusatzversicherungen abschliessen.

Eine Illusion sollte man aber nicht haben: Mit der Abschaffung der Zwei-Klassen-Krankenversicherung wird man die Abschaffung der Zwei-Klassen-Medizin nicht erreichen. Dazu müsste man zuerst die Klassengesellschaft abschaffen.

Themenbezogene Interessen (-bindung) der Autorin/des Autors

Der Chirurg Bernd Hontschik ist u.a. Mitglied bei der Thure von Uexküll-Akademie für Integrierte Medizin AIM, bei MEZIS und bei Ärzte für eine Verhütung eines Atomkriegs IPPNW, ist im Beirat der Akademie Menschenmedizin AMM und im wissenschaftlichen Beirat der Fachzeitschrift «Chirurgische Praxis». Kolumnen von Hontschik erscheinen regelmässig in der Frankfurter Rundschau. Sein neuestes Buch: «Erkranken schadet Ihrer Gesundheit», 2019, Westend Verlag.

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Grafikquellen        :

Oben      —        Bernd Hontschik fotografiert von Barbara Klemm (2009)

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