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Essay Flüchtlingspolitik

Erstellt von Redaktion am Mittwoch 13. April 2016

Geständnis eines Linken

File:Migrant hunting EU agency - Shut Down FRONTEX Warsaw 2008.jpg

 von Ulrich Schulte

Wer links fühlt, muss die neue Abschottungspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel kritisieren. Oder doch nicht?

Ich muss ein Geständnis ablegen. Irgendwo, ganz hinten rechts im Kopf, steckt dieser Zweifel. Er piekst, nervt, ist aber leider nicht totzukriegen, seit Monaten schon. Zweifel sind anstrengend, wenn man Parlamentskorrespondent einer kleinen, linken und sehr meinungsfreudigen Zeitung ist.

Wieder mal muss ein Kommentar geschrieben werden über Angela Merkels Flüchtlingspolitik. Klar, scharf und pointiert versteht sich. Wie Merkel zum Beispiel die Abschottung Europas still und leise organisiert hat, das kann nicht gut finden, wer sich linksliberal, progressiv und weltoffen fühlt. Was ist die Vereinbarung der EU mit der Türkei anders als schäbig, schließlich lagert die EU ihr moralisches Dilemma in einen Staat aus, der Menschenrechte mit Füßen tritt.

Oder?

Jetzt flüstert der Zweifel im Kopf, mit einem feinen, hohen Stimmchen.

Weißt du es besser, du Schlaumeier? Willst du offene Grenzen? Möchtest du, dass noch viele Millionen Flüchtlinge kommen? All die Müden, Armen und Heimatlosen, die Ausgebombten und Verzweifelten aus dem Nahen Osten?

Es schmerzt, das zuzugeben. Aber die Antwort auf diese Fragen ist: Nein, lieber nicht. Ich würde ja gern behaupten, dass dieses Land problemlos fünf, zehn oder fünfzehn Millionen Geflüchtete aufnehmen könnte. Aber ich glaube nicht daran.

Die aufgeheizte Stimmung in der Republik spricht dagegen. Schon jetzt, mit einer überschaubaren Zahl Geflüchteter, in einer luxuriösen Haushalts- und Wirtschaftssituation, trieft die Hetze aus allen Ecken. Was wäre hier los, wenn es Massenarbeitslosigkeit gäbe – und fünf Millionen Flüchtlinge in den Sozialsystemen? Man will es sich nicht ausmalen.

Außerdem meldet sich mein kleiner deutscher Egoismus. Jener fürchtet, etwas könne mit diesem liberalen, sicheren und reichen Land passieren, wenn zu schnell zu viele Fremde aus völlig anderen Kulturkreisen dazukommen. Das ist eine diffuse, wahrscheinlich unbegründete Befürchtung, ich weiß. Trotzdem, der Zweifel bleibt.

„Die Zahlen mussten runter“

Dies ist mein schmutziges Geheimnis. Die Flüchtlingszahlen müssen sinken. Da ist diese beschämte Erleichterung, wenn der Innenminister stolz bekannt gibt, dass nur noch wenige kommen. Ich sage das nur nicht allzu laut. Wer sich im weitesten Sinne dem rot-grünen Milieu zugehörig fühlt, wer von sich denkt, europäisch zu denken, gibt ungern zu, ein Problem mit unkontrollierter Einwanderung zu haben.

Schließlich heißt das, ein lange gepflegtes Selbstbild zu hinterfragen. Und den Konservativen recht zu geben, zu denen man nie gehören wollte. Nicht schön, das alles. Die sogenannte Flüchtlingskrise, die in Wirklichkeit eine Krise für die geflüchteten Menschen ist, aber nicht für die verwöhnte deutsche Mittelschicht, stellt linke Denkschemata auf den Kopf.

Da ist der Freund, zweifacher Vater, Großstädter, hilfsbereit wie kein anderer, der nach dem zweiten Bier sagt: „Die Zahlen mussten runter. Das wusste doch jeder.“

Da ist die kluge, weit gereiste Journalistin, Schwerpunkt Außenpolitik, die gesteht: „Merkel in die Pfanne hauen? Ich weiß doch auch keine Alternative.“

Da ist der grüne Spitzenpolitiker, der nach der Klausurtagung an der Hotelbar offen redet. „Für viele Grünen-Wähler hört der Spaß auf, wenn neben ihrer Tochter in der Grundschule zehn Arabisch sprechende Kinder sitzen.“

Ich fürchte, die drei liegen richtig, jeder auf seine Weise. Die Flüchtlinge waren für die „Linke“ – wenn man von ihr noch sprechen will – eine intellektuelle Überforderung. Es fehlte im deutschen Diskurs ein modernes, weltoffenes, aber auch Schutz suggerierendes Konzept links von der Kanzlerin.

Es ist nicht so, als hätten Linke keine guten Antworten für Migrationsfragen. Sie fordern seit Jahrzehnten Flüchtlingskontingente, die das reiche Europa aufnehmen müsse. Sie warben immer dafür, dass eine moderne Gesellschaft Einwanderung braucht. Fluchtursachen bekämpfen, die Forderung, die jetzt in aller Munde ist, ist ein linkes Konzept. Benachteiligten Ländern helfen, verantwortungsvoll konsumieren, Klimawandel bekämpfen – alles richtig.

Doch das linksliberale Milieu hatte keine Antwort auf entscheidende Fragen, die menschliche Urängste berühren. Was passiert, wenn viele Fremde in meine Heimat kommen? Was, wenn sich die innere Verfasstheit einer Gesellschaft schnell ändert?

Offene Grenzen – eine schöne Utopie

Quelle: TAZ >>>>> weiterlesen

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Fotoquelle – Wikipedia : Noborder Networkshut down frontex (in front of the frontex HQ) Uploaded by PanchoS / CC BY 2.0

 

Ein Kommentar zu “Essay Flüchtlingspolitik”

  1. Zwergenmama sagt:

    Jede Medaille hat zwei Seiten. Eine moderne Gesellschaft braucht in erster für die eigenen Leute Arbeit, von der sie gut leben können. Viele Neiddebatten werden verstummen in Bezug auf Menschen, die in Deutschland eine zweite Heimat suchen!
    Man darf nicht darauf warten bis aus einem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf ……

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