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„friday for future“

Erstellt von Redaktion am Montag 30. September 2019

Was wir von Greta Thunberg auch über uns lernen können

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Quelle        :    Scharf  —  Links

Von Franz Witsch

Es wird viel über die Klima-Aktivistin Greta Thunberg gesprochen, geschrieben, kritisiert, verunglimpft etc. Deshalb ist es vielleicht angebracht, einen mir wichtigen Aspekt im Hinblick auf ihre Person herauszustellen. Dazu möchte ich den interessierten LeserInnen Texte (Tx01, Tx02, Tx03) zur Kenntnis geben. Sie sind am Ende des Briefs unter „Quellen“ einsehbar.

Um es gleich zu sagen: Ich finde Greta Thunberg gut. Allerdings bemühe ich mich, sie nicht zu überhöhen; das hieße, in ihre Person oder ihre Aussagen einen zu großen Bedeutungsüberschuss zu projizieren. Der hätte zur Folge, ihre Existenz bzw. ihr Innenleben von der äußeren Realität („wie sie ist“) zu isolieren, sowohl im Bewusstsein (Innenleben) des Überhöhenden als auch der überhöhten Person; dies im „Modus psychischer Äquivalenz“ (vgl. K14, S. 2f).

In diesem Modus mutierte die überhöhte Person in unserer Vorstellungswelt oder im Denken zum irrealen oder imaginären Objekt, das dann ohne Bezug zur äußeren Realität fühlen, denken und sprechen würde – tatsächlich unverstehbar gefangen in „Weltlosigkeit“, wie Hannah Arendt über den Holocaust-Organisator Adolf Eichmann sagte. Sie sprach in diesem Zusammenhang von der „Banalität des Bösen“: Eichmann sei eigentlich ein Mensch wie jeder andere, nur eben überzeugt seine Pflicht gegenüber Hitler erfüllen zu müssen, weil er ihm einen Treueeid geschworen habe.

Überhöhte Personen sind eben unantastbar, jeglicher Kritik entzogen. Wie sagte Karl Krauss, gestorben 1936, nach der Machtübernahme noch gleich? Ach ja: zu Adolf Hitler fiele ihm nichts mehr ein. Unverstehbar. Etwas, was übrigens Heidegger, angelegt in seinem Werk „Sein und Zeit“ (SuZ), nicht verstanden hat, als er sich nach 1933 den Nazis andiente, um, wie er später zu seiner Rechtfertigung zu behaupten, das Schlimmste zu verhüten. Er entwickelte einen Entfremdungsbegriff, demzufolge sich der Mensch aus allen sozialen Bezügen (zunächst) verabschieden müsse (vgl. DP4, S. 126-136), um das, was Heidegger das „eigentliche Sein“ (Seyn, vgl. SaHei, S. 323f) nennt, erfahrbar zu machen.

Die eigentliche Erfahrung werde indes „zugestellt“, unerfahrbar gemacht, durch die modernen Wissenschaften (seit dem 19. Jh.), denen es allein um Sachfragen zur Beherrschung bzw. Instrumentalisierung der Natur, auch die des Menschen, gehe, und nicht darum zu erspüren, was der Mensch „eigentlich“ sei.

Dummes Zeug.. Nach meinem Dafürhalten wäre das Eigentliche die Beziehungsebene, nämlich die Fähigkeit, soziale Beziehungen „im Sinne aller“ zu gestalten; eine Fähigkeit, die in unserer Gesellschaft immer mehr abhandenkommt. Würde Heidegger dies verstanden haben, hätte er sich den Nazis nicht angedient. Recht hat er indes damit, dass der Mensch sich seine Existenz (Innenleben) zustellt, indem er sich allein um Sachfragen bemüht – ich würde, anders als Heidegger, ergänzen: unter Ausklammerung der Beziehungsebene, die bei Heidegger keine Rolle spielt, es sei denn eine negative. Etwas, was Rüdiger Safranski (in SaHei) nicht klar genug herausarbeitet, wiewohl er sich hier an Hannah Arendt hätte orientieren können, die allerdings auch, wie die meisten Philosophen heute noch, dazu neigt, Heideggers „Sein und Zeit“ von seinem Engagement für die Nazis zu trennen.

Kritikfähigkeit verweist primär auf die Beziehungsebene; diese steht über der Sachebene. Das schließt ein: (inhaltliche) Sachfragen (zur Klimaerwärmung), zu denen mir als Laie „zu wenig einfällt“, sind von sekundärer Bedeutung; mich interessiert an Greta, dass sie mit ihrem Auftritt vor der UNO die Beziehungsebene einbringt; ihre Fähigkeit Beziehungen einzugehen, die sie als Botschaft zusammen mit ihren Sachaussagen absondert. Weniger wichtig ist mir, ob ihre Aussagen (als solche) richtig oder falsch sind, namentlich ob der Klimawandel menschengemacht ist oder natürliche Ursachen hat.

Anders verhält es sich im Hinblick auf die Gestaltung des Innenlebens: Dort könnten wir uns kompetenter äußern, wenn wir es denn wirklich wollten und unser Innenleben durch Sachfragen nicht beständig zustellen würden, das Wesentliche aussparend: wie gehen wir miteinander um? Dazu gehört Mut, kämen auf der Beziehungsebene doch auch Defizite, der „Verlierer in uns“ (vgl. DP3, S. 92-99), zur Sprache kämen, mit denen wir uns nicht gern konfrontieren lassen. Ganz besonders Politiker, die es nicht zuletzt deshalb nötig haben, einem 16-jährigen Teenager die Leviten zu lesen.

Andrerseits kommen wir, wiewohl wir sie ausklammern, um die Beziehungsebene nicht herum, weil wir jeden Tag, ob wir es wollen oder nicht, mit der Notwendigkeit, Beziehungen eingehen und gestalten zu müssen, konfrontiert werden. Das passiert regelmäßig eher schlecht als recht, mehr oder weniger sozialverträglich im Hinblick auf die Entwicklung sozialen Strukturen. Darüber beschwert sich Greta vor der Weltgemeinschaft bei den Politikern, indem sie über Sachfragen redet und dabei, nun die Beziehungsebene unausgesprochen einbeziehend, ihre Tränen (Wut) kaum zu verbergen vermag. Ich finde das gut und mutig obendrein; weil sie sich Schmähungen aussetzt bei den Menschen, die sich im Inneren getroffen fühlen und diese ihre Betroffenheit rationalisieren, indem sie Greta Sachinkompetenz vorwerfen. Ärmlich.

Auf der Beziehungsebene geht es primär um Wahrhaftigkeit und Authentizität einer Person. Sie kommt bei Greta in erster Linie zum Ausdruck, wie sie spricht und welche Botschaften im unausgesprochenen „Wie“ sie nonverbal zusätzlich zum „Was“ aussendet (Bedeutungsüberschuss); indem sie mit ihrer emotional vorwurfsvollen Frage eine einzulösende Erwartungshaltung auf der Beziehungsebene transportiert, eben dadurch, dass sie Gefühle authentisch ins Spiel bringt. So gesehen könnte die Frage etwas anders vom Wortlaut her auch lauten: „Wie können Sie es wagen, die Welt mit Ihrer Beziehungsunfähigkeit zu zerstören?“

Solch eine Kritik, recht verstanden, geht tiefer als es Irrtümer in Sachfragen zur folge haben; das zeigen einige Reaktionen der Politiker, die lediglich hilflos reagieren, wenn man ihre Fähigkeit, Beziehungen zu gestalten, infrage stellt (vgl. Tx03), etwas, was sie, besonders wenn’s um sie selbst geht, feinfühlig spüren, ohne es zu sagen. Aber auch sonst reagieren viele Menschen irritiert bis aggressiv, jedenfalls nicht souverän, wenn Gefühle, die das Gesagte mit überschüssiger Bedeutung gleichsam transzendieren, ins Spiel kommen. Sie denken, dass das, was gesagt worden ist, im Zeichen identifiziert sei, als wäre das, was sie sagen, identisch mit dem, was sie meinen, wenn sie es sagen, also der Interpretation nicht zugänglich. In diesem Fall fühlen, denken und sprechen Menschen im „Modus psychischer Äquivalenz“ (vgl. Svenja Taubner in K14, S. 2f). Wäre dem tatsächlich immer so – die meisten Menschen wissen nicht, dass sie in Wirklichkeit so nicht „ticken“ –, könnten wir uns Kommunikation sparen. Sie bliebe öde, langweilig, leidenschaftslos. Immer mehr Menschen sind es ja auch: öde, langweilig, leidenschaftslos, abgeschnitten von sich selbst und ihrer Umgebung; „weltlos“, wie Hannah Arendt sagen würde.

Allen voran Politiker. Die meisten Bürger hören nicht mehr zu, ohne genauer zu wissen, warum, wenn Politiker sprechen oder diskutieren. Sie verleugnen, verdrängen, verdrehen unentwegt, selbst über das notwendige Maß ihrer Existenzsicherung hinaus; oder schauen weg, wie Greta sagt.

Wegschauen tut man nicht, indem man irrt: auf der Sachebene falsch liegt. Im Gegenteil kommt Authentizität auf der Beziehungsebene dadurch zum Ausdruck, wie man mit Irrtümern und damit auch mit einem Gegenüber umgeht, der den eigenen Irrtum identifiziert, ob man also in der Lage ist, Irrtümer produktiv zu verarbeiten, v.a. dann, wenn die Verarbeitung an die Substanz geht, die eigene Existenz (wenn auch nicht existenziell, sozusagen auf Leben und Tod) berührt. Wird sie negativ wiewohl nicht existenziell berührt, etwa Ruf oder Karriere in Mitleidenschaft gezogen, oder werden vielleicht einfach nur liebgewordene Gewohnheiten berührt, schauen Menschen dennoch nachhaltig weg. Einfach weil sie es gewohnt sind, tief verinnerlicht haben, ihr Innenleben zu tabuisieren. Dann greifen vielleicht einfache Mechanismen, die jegliche Kommunikation, bei der es „um etwas geht“, zusätzlich erschweren, sodass die Beziehungsebene massiv in Mitleidenschaft gezogen werden kann.

Auffällig vor allem bei Politikern: sie ignorierten allesamt selbst auf der Sachebene grundlegende Probleme, die uns unser Wirtschaftssystem, der Kapitalismus, auferlegt; namentlich das Problem, dass der Kapitalismus jede Menge Unsinn, z.B. Autos (für den privaten Verkehr), produziert, die zu lieben wir „gelernt“ oder verinnerlicht haben; der ferner Unsinn produziert wie Rüstung, Kriege, Plastik, Zerstörung von (Regen-) Wälder, landwirtschaftlicher Nutzfläche sowie die Zu-Betonierung der Landschaft mit Straßen für den privaten Autoverkehr.

Derartige Unsinns-Produktionen gehören unabhängig davon eingestellt, ob die dabei verwendeten Ressourcen und Energieträger Kohlendioxid (Co2) ausstoßen oder nicht, und unabhängig davon, ob ein wachsender Co2-Ausstoß unser Klima signifikant erwärmt oder nicht; sodass die Frage nach den menschengemachten Ursachen der Klimaerwärmung zwar interessant, politisch aber weniger relevant ist.

Nun ist die Wahrscheinlichkeit, dass Greta das versteht, ungleich größer, als bei einem Politiker, zumal wenn dieser etwas zu verlieren hat; ganz zu schweigen, dass er begreift, dass der wachsende Ressourcen-Verbrauch zur Produktion von Unsinn ein riesiges Problem ist, den der Kapitalismus gleichwohl braucht, um die gesamtwirtschaftliche Nachfrage hoch zu halten, besser noch stetig zu erhöhen, um Wachstum ad infinitum zu generieren, um mit Wachstum Einkommen und Sozialstaat zu sichern, selbst wenn die Spatzen es längst von den Dächern pfeifen, dass das nicht ewig so weitergehen kann; zumal Wachstum sich nachfrage- und einkommenseffektiv nur noch durch Unsinns-Produktionen stabilisieren lässt. Und die setzen im Falle wachsender Rüstungsanstrengungen Kriege voraus, wie sie überall in der Welt insbesondere vom Westen geführt oder inszeniert werden, weil dort ganz besonders hohe Einkommenseffekte zu verteidigen sind.

Um auf die Beziehungsebene zurückzukommen: die Wahrhaftigkeit einer Person kommt in Abhängigkeit davon zum Ausdruck, ob sie in der Lage ist, sich allen Fragen, die wichtig sein könnten, zu öffnen; selbst wenn sie das eigene Innenleben berühren, z.B. durch geringeres Einkommen. Mit Letzterem kommen die meisten Menschen nicht zurecht, noch ohne zu durchschauen, mit was sie tatsächlich nicht zurechtkommen (mit dem Verlierer in sich), und interessieren sich deshalb vorsichtshalber nur für einen kleinen Ausschnitt ihrer inneren und der äußeren Welt – bis hin zur völligen „Weltlosigkeit“ ihrer Person (Hannah Arendt), nämlich in Abhängigkeit davon, ob jener Ausschnitt ihre persönlichen (Karriere- oder Einkommens-) Interessen berührt oder nicht. Berührt er sie negativ, verkleinern sie den Ausschnitt, d.h. sie schauen noch ein Stück weiter weg bis zu einem Punkt, wo sie nur noch orientierungslos in der Weltgeschichte herumlaufen, um zur Knetmasse in den Händen von Rechtspopulisten zu degenerieren. Das macht sie unwahrhaftig, nicht-authentisch, mit anderen Worten („strukturell“) verlogen – noch im Vorfeld einer rechtspopulistischen Gesinnung, fällt diese doch nicht einfach vom Himmel.

Sicherlich ist nicht auszuschließen, dass der wachsende Ressourcen-Verbrauch das Weltklima über das notwendige Maß hinaus erwärmt, das zur Ernährung der Weltbevölkerung nötig ist; tatsächlich ein Nebenaspekt auf der Sachebene, die Beziehungsebene ausklammernd, wiewohl das eigentlich gar nicht geht, auf den Nebenaspekt sich aber alle Welt im Konflikt mit einem 16-jährigen Mädchen konzentriert, um von der Zerstörungswut unseres Wirtschaftssystems abzulenken, wegzuschauen, wie Greta sagt, und um dabei die eigene Person, das, was ihr Innenleben ausmacht, zuzustellen (Heidegger in „Sein und Zeit“).

Zum Schluss möchte ich einen zusätzlichen Aspekt ins Spiel bringen im Hinblick darauf, dass Greta Autistin ist (vgl. Tx02). Vor diesem Hintergrund frage ich noch einmal: Was macht Greta so authentisch? Es ist, wie gesagt, ihre Beziehungsfähigkeit und damit, wie ich meine, ihre Fähigkeit zu „wirklicher“ Empathie: Beziehungen einzugehen, zu strukturieren, zu mentalisieren, wie es in K14 (S. 2ff) heißt. Das setzt die Fähigkeit zur Empathie voraus, nicht zu verwechselt damit, Gefühle lesen und in sich generieren zu können (vgl. K14, S. 63; S. 75f, Fußnote, ferner die Besprechung eines Romans, geschrieben von einem Autisten, in MP2, S. 158 ), sodass Greta, vermutlich weil sie Autistin ist, sich sehr wahrscheinlich nicht wird irre machen lassen davon, dass man sie vor der Weltgemeinschaft hat reden lassen. Eben weil beim Autisten die Wahrscheinlichkeit zur Selbst-Überhöhung ungleich geringer ist als beim sogenannten Normalbürger. Das schließt ein, dass Autisten vermutlich viel weniger korrumpierbar sind als die meisten Politiker.

Herzliche Grüße

Franz Witsch

www.film-und-politik.de

Quellen:

DP3: Franz Witsch, Die Politisierung des Bürgers. 3. Teil: Vom Gefühl zur Moral, Norderstedt 2017, erste Aufl. 2013

DP4: Franz Witsch, Die Politisierung des Bürgers. 4. Teil: Theorie der Gefühle, Norderstedt 2015, erste Aufl. 2012

MP2: Franz Witsch, Materialien zur Politisierung des Bürgers, Band 2: Kommunikation unter Verdacht, Norderstedt 2015

Tx01: „Wie können Sie es wagen, weiter wegzuschauen?“

Telepolis vom 25.09.2019, Wolfgang Pomrehn

https://heise.de/-4539313

Tx02: Die Mär vom empathielosen Autisten

Telepolis vom 07.09.2019, von Konrad Lehmann

https://heise.de/-4501615

Tx03: Bierdeckel-Fachmann Friedrich Merz, der Klimawandel und die Verunglimpfung der Klimaaktivistin Greta Thunberg

Telepolis vom 27.09.2019, von Rainer Schreiber

https://heise.de/-4541225

K14: Franz Witsch, Mentalisieren: Anmerkungen zur Gestaltung des Innenlebens. http://www.film-und-politik.de/Politik/K14.pdf

SaHei: Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, Frf./Main 2001, 9. Auflage 2015, erstmals erschienen 1994.

SuZ: Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 2001, erstmals  erschienen 1927

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Grafikquellen      :

Oben     —           Demonstration anlässlich des Global Climate Strike am 20. September 2019 in Sydney.

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