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Freihandel – Sozialismus

Erstellt von Redaktion am Mittwoch 19. April 2017

Onkel Hos Soldaten an der Wirtschaftsfront

File:Stevan Kragujevic, Ho Chi Minh, Josip Broz Tito and Edvard Kardelj, Beograd, avgust 1957.jpg

Foto: Stevan Kragujevic:  Ho Chi Minh, Josip Broz Tito and Edvard Kardelj 1957 in Belgrad

Freihandel statt Sozialismus in Vietnam

von Martine Bulard

Einen wie Nguyen Van Thien nennt die Kommunistische Partei Vietnams (KPV) „Onkel Hos Soldat an der Wirtschaftsfront“. Der Ehrentitel nimmt Bezug auf Ho Chi Minh, Held der Unabhängigkeit und Gründer der Demokratischen Republik Vietnam. Nguyen Van Thien, ein etwa 50-jähriger energischer Mann mit dichtem schwarzen Pony, ist Geschäftsführer der Bac Giang Garment Corporation – und stolz auf seine internationale Kundschaft aus den USA, Japan und Spanien.

In seinen Fabriken – vier mit Menschen und Maschinen vollgestopfte Hangars am Stadtrand von Bac Giang, anderthalb Autostunden von Hanoi entfernt – arbeiten fast nur Frauen. Etwas abseits liegt ein Häuschen mit bescheiden eingerichteten Büros, daneben ein Altar für die Glücksgeister des Wohlstands. Solche mehr oder weniger imposanten Altäre sieht man in allen Fabriken. Sie stehen unter freiem Himmel oder in der Eingangshalle, vor manchen glimmen Räucherstäbchen.

Die Bac Giang Garment Corporation (BGGC) ist in Vietnam kaum bekannt, weil sie ausschließlich für den Export produziert. Laut Vertrag dürfen die Anoraks, Hosen und Jacken von Gap, Uniqlo und Zara nicht auf dem viet­na­mesischen Markt angeboten werden – um die Marken nicht zu entwerten. Als könnten die Arbeiterinnen, die in Sechstagewochen zwischen 3 Millionen und 5 Millionen Dong (120 bis 210 Euro) im Monat verdienen, sich die Kleider, die sie herstellen, leisten.

Vor zehn Jahren bestand die BGGC aus einer einzigen Fabrik mit 350 Beschäftigten. Damals war Nguyen Van Thien noch Chef der technischen Kontrolle. Das war vor der Privatisierung – ein Wort, das in dem Einparteienstaat niemand offiziell verwenden würde. Man windet sich in Begriffen wie „Vergesellschaftung“, „Umwandlung in Aktien“ und manchmal sogar „Verstaatlichung“, um zu erklären, dass die Anteile eben nicht mehr dem Staat gehören. Sie liegen dann bei den Angestellten, die ein Vorkaufsrecht besitzen (wenn sie es denn ausüben können), oder bei allen, die sich beteiligen „wollen“. Das Unternehmen ist damit nach offizieller Terminologie ein „Gemeingut aller Viet­na­mesen“. Das klingt nach gerechter Verteilung, aber in Wahrheit haben sich diejenigen, die über das Sozial- und Finanzkapital verfügten, gleich den Löwenanteil gesichert.

Heute besteht die BGGC aus fünf Fabriken mit insgesamt 14 000 Beschäftigten. Dem ehemaligen Angestellten und KPV-Mitglied Nguyen Huu Phay gehören allein 40 Prozent des Unternehmens, die er über Aktienkäufe und Kapitalerhöhungen erworben hat. Ein großes Fotoporträt von ihm hängt im Wartezimmer für Besucher. Früher, als es in Vietnam nur Staatsbetriebe gab, kamen die Bestellungen direkt vom Volkskomitee und aus dem parteigeführten Handelsministerium. Doch seit vor 30 Jahren „die Marktwirtschaft mit sozialistischer Ausrichtung“ eingeführt wurde, kontrollieren die großen westlichen Marken alles, vom Knopfdesign bis zum Nähgarn; und sie diktieren die Preise. Nguyen Van Thien ist dennoch froh, „dem staatlichen Joch und Papierkrieg“ entronnen zu sein. Für ihn zählt vor allem, dass „wir Geld verdienen“.

Nicht alle Versuche endeten so erfolgreich. Die meisten großen Staatsbetriebe machten Verluste, und zwar unabhängig davon, ob sie in Aktiengesellschaften umgewandelt wurden oder nicht. Das berichtet ein bekannter Anwalt, der anonym bleiben möchte. Der frühere hohe Funktionär leitet heute eine große Kanzlei, die sich auf Handelsrecht spezialisiert hat. Nur wenige Unternehmen kamen nach der „Erneuerung“ (doi moi) von 1986 groß heraus. Dazu gehören der Immobilienkonzern Vingroup, dessen Chef Pham Nhat Vuong als einziger Vietnamese auf der Forbes-Liste der Dollarmilliardäre auftaucht, VietTel, die Nummer eins im Telefongeschäft, und der Molkereikonzern Vinamilk. Alle drei verdanken ihren Erfolg aber besonderen Umständen. Vingroup konnte mithilfe staatlicher Aufträge und exklusiver Nutzungsrechte von Grund und Boden enorme Profite einfahren; VietTel gehört der Armee und hat privilegierten Zugang zu Satelliten und Funkfrequenzen; und Vinamilk ist im Besitz ausländischer Eigner, darunter ein Fonds aus Singapur.

Overpopulation in Hồ Chí Minh City, Vietnam.JPG

Stadtverkehr

Unternehmen, die zögerten, Gesellschafter aufzunehmen, und nicht mehr vom Staat kontrolliert wurden, schreiben indes gigantische Verluste – eine „Mischung aus Inkompetenz und Korruption“, diagnostiziert der Anwalt. Das eklatanteste Beispiel liefert der Energiekonzern PetroVietnam. Mehrere Geschäftsführer wurden nach horrenden Verlusten und nachgewiesener Günstlingswirtschaft zum Rücktritt gezwungen. Der KPV-Chef Nguyen Phu Trong hat offensichtlich beschlossen, entschiedener gegen die weit verbreitete Korruption vorzugehen, über die so viele Vietnamesen klagen und die den Kapitalverkehr in die aufstrebende Marktwirtschaft behindert.1 Die vietnamesischen Unternehmer seien bislang nur in einem kleinen Teich geschwommen, meint dazu der Anwalt. „Aber jetzt müssen sie raus aufs hohe Meer“ – das stürmische Meer des Freihandels und der gnadenlosen Konkurrenz.

Die Firma BGGC hat ihre Erfahrungen damit gemacht. „Um Kostendruck zu erzeugen, spielen einige Großkunden Vietnam gegen China aus und umgekehrt“, berichtet Nguyen Van Thien. Deshalb müsse er nun überall den Rotstift ansetzen. Der japanische Bekleidungshändler Uniqlo hat die Lieferungen aus China erst einmal gestoppt und stattdessen Subunternehmen in Vietnam angeheuert. Und die Hongkonger Textilfirma Leverstyle, die unter anderem auch für die japanische Marke näht, kürzte in seinen chinesischen Niederlassungen ein Drittel der Stellen. Bis 2020 will Leverstyle 40 Prozent seiner Ware in Vietnam produzieren lassen, wo es bis vor sechs Jahren noch gar nicht präsent war.2 Seit Beginn dieses Jahrzehnts verlassen immer mehr große Markenfirmen und deren Subunternehmer China, wie der taiwanesische Konzern PouChen (Nike, Adidas, Puma, Lacoste), der in die Industriegebiete rund um Ho-Chi-Minh-Stadt über 2 Milliarden US-Dollar investiert hat.

Laut Truong Van Cam, Vizepräsident der Vereinigung der Textil- und Bekleidungsunternehmen (Vitas), stammen 65 Prozent der vietnamesischen Textilexporte aus Firmen mit ausländischen Eignern oder Auftraggebern. Das sei doch eine gute Nachricht, meint der Arbeitgebervertreter, der eher wie ein sowjetischer Bürokrat aus den 1970er Jahren wirkt und nicht wie einer dieser amerikanisierten Jungunternehmer, die einem hier über den Weg laufen. Die Vitas habe als Erste Wirtschaftsreformen gefordert, erzählt Truong Van Cam, weil sie früh erkannt habe, dass die jüngere Generation andere Bedürfnisse hat und sich der Uniformisierung verweigert: „Wir müssen der Jugend Arbeit verschaffen. Das ist unser einziger Reichtum, aus dem wir schöpfen können.“

Für Truong Van Cam ist die Weltwirtschaft wie eine Karawane, die von Europa nach Japan und Südkorea zog und von dort nach China. Als auch dort die Löhne stiegen, ging es weiter nach Vietnam, Bangladesch und Myanmar. „Das ist ein Naturgesetz, denn das Ziel der Firmen besteht darin, Profit zu machen. Das sind Zyklen von zehn oder fünfzehn Jahren.“

Wie die meisten Wirtschaftsführer setzte auch Truong Van Cam große Hoffnungen auf das Freihandelsabkommen Transpazifische Partnerschaft (TPP) zwischen den USA und elf Pazifikanrainerstaaten (siehe nebenstehenden Kasten). Barack Obama hatte sie gar zum „fortschrittlichsten Handelsabkommen der Geschichte“ erklärt. Gestützt auf Berechnungen der Weltbank, erwarteten die Textilunternehmer bis 2025 einen steilen Anstieg ihres Weltmarktanteils von derzeit 4 auf 11 Prozent, die Elektronikkonzerne rechneten mit einem Exportboom in der Größenordnung von 18 Prozent, und die vietnamesische Regierung prognostizierte für die kommenden zehn Jahre ein Wirtschaftswachstum von 0,8 bis 2 Prozent pro Jahr.

Die vielversprechenden Aussichten haben viel dazu beigetragen, dass sich die ausländischen Niederlassungen in den letzten Jahren derart schnell ausgebreitet haben. Und natürlich die unschlagbar niedrigen Löhne, wie Shimiu Tatsuji und La Van Tranh zu verstehen geben, das japanisch-vietnamesische Führungsduo von Foster Electric aus Japan, das in Vietnam Smartphonemikrofone und Autolautsprecher herstellen lässt: „Die vietnamesischen Arbeiter sind sehr konkurrenzorientiert. Sie sind zwar schlechter ausgebildet, lernen aber schnell. Hier sind 30 000 Menschen beschäftigt, der Grundlohn liegt zwischen 150 und 200 US-Dollar im Monat, während es in China durchschnittlich 650 US-Dollar sind. Wir sparen sehr viel Geld.“

Eine echte Goldgrube – nicht nur für den Foster-Konzern, der schon einige Niederlassungen in China geschlossen hat. Samsung hat 15 Milliarden US-Dollar investiert und beschäftigt 46 000 Mitarbeiter, quasi eine ganze Stadt. Hinzu kommen Foxconn, Apple und Canon.

Die niedrigen Löhne sind aber nicht der einzige Grund. Der Boom der letzten Jahre basierte vor allem auf den geplanten Senkungen der Zollgebühren in den USA und den elf übrigen Pazi­fik­an­rainern, die laut TPP bis zum Jahre 2025 vollständig abgebaut sein sollten. Zudem hatten die US-Verhandler eine strenge „Made in“-Regel durchgesetzt, nach der die zu exportierenden Güter entweder vollständig in Vietnam oder nur aus Bestandteilen hergestellt werden sollten, die aus TPP-Mitgliedsländern stammten – damit wäre China außen vor geblieben. Und Vietnam hätte nicht länger nur in China produzierte Teile zusammengebaut. So entstand der Goldrausch, den man seit Beginn dieses Jahrzehnts beobachten konnte.

Kaum Schutz für Arbeiter und Umwelt

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This image is a courtesy of Tanja Kragujević, Stevan Kragujević’s daughter, premission
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Unten — Overpopulation in Hồ Chí Minh, Vietnam.

 

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