Frankreichs Gelbwesten
Erstellt von Redaktion am Freitag 14. Dezember 2018
Woher die Wut kommt
Von Alexis Spire
Präsident Macron denunziert die Bewegung der Gilets jaunes als chaotisch und beklagt, sie habe keine Führung. Doch über die Motive der Rebellion kann er keine Zweifel haben. Der Kampf gegen Steuererhöhungen ist im Kern eine Protestbewegung gegen den Abbau des Sozialstaats und die wachsende soziale Ungleichheit.
Die Slogans sind eindeutig: „Steuererhöhungen stoppen“, „Dagobert Macron“, „Der Weg zur Arbeit wird zum Luxus“, „Rechte, Linke = Steuern“, „Schluss mit der Abzocke! Wenn das Volk sich erhebt, ist die Revolution nicht mehr weit“. Was die Demonstranten empört, die am 17. November aus Protest gegen höhere Kraftstoffsteuern wichtige Verkehrsachsen lahmlegten, ist Ausdruck einer vielschichtigen politischen Bewegung, die ein sehr konkretes Thema beschäftigt: die Beziehung zwischen Steuern und Sozialstaat.
Im 20. Jahrhundert hielten sich die unteren Schichten aus Steuerfragen weitgehend heraus. Als in Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg die progressive Einkommensteuer eingeführt wurde, begehrten vor allem die freien Berufe, die Selbstständigen und Landwirte auf, die sich deshalb in Steuerzahlerverbänden organisierten.1 Für die französische Arbeiterbewegung spielte das Thema Steuerungerechtigkeit außer zu Zeiten der Volksfrontregierung (1936–1938) nur eine marginale Rolle; wichtiger waren Lohnforderungen und vor allem die Verteidigung von Arbeitsplätzen. Selbst gegen die per se ungerechten indirekten Verbrauchsteuern machten Gewerkschaften und linke Parteien nur selten mobil, obwohl zum Beispiel die Mehrwertsteuer in Frankreich heute etwa die Hälfte, die Einkommensteuer aber nur ein Viertel der Staatseinnahmen ausmacht.
Das hat sich in den letzten Jahren verändert: Das Thema Steuern avancierte zu einem zentralen Anliegen im Kampf gegen die Sparpolitik. In Portugal demonstrierten im Mai 2010 Zehntausende gegen Steuererhöhungen und die Kürzung der Staatsausgaben. Ein Jahr später protestierten in Spanien Hunderttausende empörter Menschen („Indignados“) gegen die restriktive Finanzpolitik, gegen Privatisierungen und gegen die exorbitante Mehrwertsteuer auf Schulmaterialien, die von 4 auf 21 Prozent erhöht wurde.
Die paradoxe Politisierung der Steuerfrage
In Griechenland gingen die Gewerkschaften des öffentlichen und privaten Sektors gegen Lohnkürzungen und eine ungerechte Steuerpolitik auf die Straße. Im Herbst 2013 schlossen sich in Frankreich von Kündigung bedrohte Arbeitnehmer in der Lebensmittelindustrie der Bewegung der „Bonnets rouges“ (rote Mützen) an, die von Bauern und Kleinbetrieben ins Leben gerufen wurde, um die Ökosteuer zu Fall zu bringen.
Es ist überall das Gleiche : Was die Einen erabeiten – dürfen die Anderen verleben! Dieses Gesamtpaket nennen sie dann Politik !
Die Wende in der Steuerdiskussion ist nicht zuletzt eine Reaktion auf staatliche Politik. Angesichts zunehmender Massenarbeitslosigkeit und des verschärften internationalen Wettbewerbs griffen die Regierungen immer weniger in die primäre Einkommensverteilung zwischen Löhnen und Gewinnen ein. Binnen weniger Jahre wurde die soziale Frage nicht mehr als Problem der Gewinnbeteiligung, sondern der steuerlichen Belastung wahrgenommen. In diesem neuen Sinne wurde sie von der Politik instrumentalisiert, um die Wählermassen zu gewinnen.
2007 konnte Nicolas Sarkozy mit seinem Slogan „Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen“ zahlreiche Arbeitnehmer und Angestellte überzeugen, die von steuerfreien Überstunden profitieren wollten. 2012 versprach François Hollande, auf Jahreseinkommen von mehr als einer Million Euro eine Steuer von 75 Prozent zu erheben. Aber diese Maßnahme, die Volksnähe suggerieren sollte, stand juristisch auf so wackeligen Füßen, dass sie vom Verfassungsgericht kassiert wurde. Und im Wahlkampf 2017 versuchte Emmanuel Macron mit der Ankündigung, die Wohnsteuer abzuschaffen, von seinem Image als Kandidat der Eliten wegzukommen. Kaum an der Macht, erklärte er, der Abbau dieser Steuer werde auf drei Jahre gestreckt.
Die Politisierung der Steuerfrage beruht jedoch auf einem Paradox: Die stärksten Kritiker des Steuerniveaus sind heute ausgerechnet die Angehörigen der unteren Schichten; die aber profitieren am stärksten von der steuer- und abgabenfinanzierten Umverteilung. Wie stark der Argwohn gegen das Steuersystem ausgeprägt ist, hängt auch vom Wohnort ab: Je weiter man sich von den großen Städten entfernt,
umso verbreiteter ist das Gefühl, steuerlich ungerecht behandelt zu werden. Nachdem die Politik jahrelang die Eigentumsbildung förderte, haben sich außerdem viele einkommensschwächere Haushalte für den Kauf der eigenen vier Wände verschuldet. Heute müssen sie die regelmäßigen Anhebungen der Grundsteuer verkraften, zu denen sich die Kommunen gezwungen sehen, um den Abbau der Transferzahlungen durch den Zentralstaat zu kompensieren.
In vielen Gegenden rührt das Gefühl ungerechter Behandlung auch daher, dass die öffentliche Daseinsvorsorge immer schlechter und die Mobilität durch die Stilllegung von Eisenbahnlinien erschwert wird.2
Da die Land- und Stadtrandbewohner zumeist auf das Auto angewiesen sind, werden sie von den höheren Kraftstoffpreisen besonders hart getroffen. Aber darüber hinaus müssen sie auch noch erleben, wie mit der Zeit alle die Einrichtungen verschwinden, in denen die vom Staat einkassierten Steuergelder konkrete und nützliche Gestalt angenommen haben: sprich das örtliche Postamt, der Bahnhof, die Schule.
Eine beispiellose Reihe von Skandalen hat das Misstrauen gegen den Fiskus zusätzlich verstärkt: 2010 wurde bekannt, dass Liliane Bettencourt, die reichste Frau Frankreichs, den Steuerbehörden mehr als 100 Millionen Euro verschwiegen und den Wahlkampf von Nicolas Sarkozy mit illegalen Zahlungen unterstützt hatte. Es folgte die Affäre um François Hollandes Haushaltsminister Jérôme Cahuzac, der für die Bekämpfung von Steuerbetrug zuständig war und 2013 zugeben musste, dass er 600 000 Euro auf einem Schwarzgeldkonto in der Schweiz angelegt hatte.
Zugleich begann eine mediale Enthüllungsserie (LuxLeaks, SwissLeaks, Offshore Leaks, die Panama und die Paradise Papers), dank der ans Licht kam, mit welchen Tricks internationale Großkonzerne, führende Politiker, Sportgrößen und Prominente aus der Unterhaltungsindustrie in großem Maßstab „Steuervermeidung“ betreiben.
Nach diesen Enthüllungen erschien die gleiche und faire Behandlung aller Steuerpflichtigen als Märchen, das die Gesetzbücher den Gutgläubigen erzählen. Fortan teilte sich die Welt in zwei Kategorien: hier die gewöhnlichen Steuerzahler, die mühsam immer wieder die Staatskasse auffüllen, und dort die Mächtigen, die sich ihren gesetzlichen Verpflichtungen entziehen können, ohne dafür ernsthaft zur Rechenschaft gezogen zu werden. Gegen die 2017 verstorbene Liliane Bettencourt wurde nie Anklage erhoben, und Jérôme Cahuzac wurde zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt, die er nicht antreten musste.
Der Eindruck, dass mit zweierlei Maß gemessen wird, bestätigt sich für die Normalbürger auch im praktischen Umgang mit den Steuerbehörden. Viele Bürger, die mit dem abstrakten Steuerjargon nicht zurechtkommen, sind auf die Hilfe der Behördenmitarbeiter angewiesen, um ihre Rechte geltend zu machen.3
Der Stellenabbau der letzten Jahre hat den Service in den Finanzämtern jedoch ständig verschlechtert. Von 2005 bis 2017 haben die französischen Regierungen mehr als 35 000 Stellen in der Steuerverwaltung gestrichen. Und das vor allem bei den Mitarbeitern, die für die Beratung der Steuerpflichtigen zuständig sind. Dadurch wurden im ländlichen Raum die Öffnungszeiten immer kürzer und in den Städten die Warteschlangen immer länger.
Leidtragende sind vor allem Steuerzahler ohne höhere Schulbildung, die lieber einen Ansprechpartner vor sich haben als ein Onlineformular. Zum Beispiel, wenn sie eine Steuerermäßigung beantragen wollen, weil sie die Wohnsteuer, die Grundsteuer oder die Rundfunkgebühr nicht aufbringen können. Mit der Zunahme der Arbeitslosigkeit und der prekären Beschäftigungsverhältnisse ist die Zahl solcher Anträge auf Steuerermäßigung zwischen 2003 und 2015 von 695 000 auf 1,4 Millionen gestiegen.
Quelle : Le Monde diplomatique >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Gilets jaunes Bastille – 8 décembre 2018…