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Frankreich Zeit für Ideen

Erstellt von Redaktion am Samstag 5. Mai 2018

Das Recht auf das, was alle brauchen

von Pierre Rimbert

Die französische Regierung versucht wieder einmal, Liberalisierungen durchzusetzen, die Gewerkschaften machen dagegen mobil – Zeit für eine neue Idee.

Es ist ein ritualisierter Kampf zwischen zwei ungleichen Gegnern: Stets beginnt er damit, dass die Regierung im Namen der Modernisierung die Daseinsvorsorge beschneiden will. Als dieses System nach dem Krieg aufgebaut wurde, dachte man noch, es sei erst der Beginn künftiger Errungenschaften: Sozial- und Rentenversicherung, Beamtenstatus, Staatsbetriebe, in denen die Angestellten nicht länger der Willkür des Arbeitsmarkts ausgeliefert sind.

Als Nächstes üben sich die Kommentatoren darin, die Reform pädagogisch zu vermitteln. Die Liberalisierung sei notwendig und daher unvermeidlich (oder umgekehrt); sie zeuge vom „politischen Mut“ der Exekutive, die das Parlament umgehen will, und sei obendrein „gerecht“, weil sie die „Privilegien“ derer beseitige, die unter weniger prekären Bedingungen arbeiten als die anderen.

Für die Gegner ist ebenfalls eine rituelle Rolle vorgesehen. Sie müssen beweisen, dass die Privilegien in Wahrheit andere sind als von der Regierung behauptet, dem medialen Druck widerstehen und die öffentlichen Dienstleistungen verteidigen. Doch was gilt es überhaupt zu verteidigen? Am 12. Dezember 1995 erklärte der Soziologe ­Pierre Bourdieu bei einer Solidaritätskundgebung für streikende Eisenbahner, man müsse „die Zerstörung einer Zivilisation verhindern, die mit der Existenz öffentlicher Dienstleistungen verbunden ist“.

Ein Vierteljahrhundert später sind die Institutionen der Daseinsvorsorge heruntergewirtschaftet und teils völlig ruiniert. Das Ministerium für Wirtschaft und Finanzen und die paternalistischen Technokraten haben ihre Mission erfüllt. Von Reform zu Reform, von Privatisierung zu Privatisierung ist der Anteil des öffentlichen Dienstes1 an der Gesamtbeschäftigung von 19 Prozent (1985) auf 5,5 Prozent (2015) gesunken.

Inzwischen sind nur noch 791 000 Beschäftigte übrig. Mitte der 1980er Jahre produzierte der Staatssektor noch ein Viertel des Nationaleinkommens, 30 Jahre später waren es weniger als 6 Prozent.2 In den öffentlichen Betrieben hatte der gleiche Kostendruck und die gleiche Managermentalität Einzug gehalten wie in Privat­un­ter­nehmen.

Bei der Reform der französischen Eisenbahn (SNCF) stimmt Präsident Emmanuel Macron die Bevölkerung gegen die Verteidigung des Bestehenden ein, weil er weiß, dass dieses sich eigentlich nicht verteidigen lässt: Wie soll man einen Staatsbetrieb in Schutz nehmen, wenn sich im Alltag alle darüber beklagen, dass dort nichts funktioniert? Die öffentlichen Dienstleistungen sind schließlich nur noch ein Schatten ihrer selbst.

Die öffentlichen Krankenhäuser müssen gleichzeitig sparen und sich gegen die private Konkurrenz zur Wehr setzen. Weil sie ihr Geld je nach Kassenlage der Sozialversicherung erhalten, müssen sie manchmal Patienten nach Hause schicken, die eigentlich nicht allein zurechtkommen – statt eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung anzubieten.

Die Universitäten, die kritische Geister ausbilden sollen, sorgen sich nur noch um ausgeglichene Bilanzen und richten sich am Arbeitsmarkt aus. Die Post, die einmal umfassende Kommunikationsmöglichkeiten anbieten sollte, ist zum Dienstleister für Amazon verkommen. France Télécom wurde abgespalten und privatisiert und kümmert sich seitdem nicht mehr um den Ausbau der Infrastruktur. Das Unternehmen soll nur noch Produkte verkaufen, Teilmärkte erobern und Aktionäre zufriedenstellen.

Die längst börsennotierte Électricité de France (EDF) hat sich auf dem internationalen Energiemarkt etabliert und kauft privatisierte Staatsbetriebe in Großbritannien auf. Die französische Bahn konzentriert sich ganz auf die rentablen Hochgeschwindigkeitsstrecken, vernachlässigt die Nebenstrecken und überlässt den Gütertransport den Lkw-Spediteuren.

Die Staatsbetriebe sollen heute nicht der Gesellschaft dienen, sondern rentable Unternehmen sein. Diese neue Zielsetzung wurde gegen den Willen der Nutzer und gegen den Widerstand vieler Beamter und Angestellter durchgesetzt. In den Postämtern, Schulen, Krankenhäusern und Seniorenheimen blieben die verheerenden Folgen der Reformen lange unsichtbar, weil die – meist weiblichen – Beschäftigten bereit waren, sich völlig zu verausgaben. Aber wie kann man öffentliche Dienstleistungen verteidigen, wenn die betroffenen Unternehmen ihre Mitarbeiter dazu zwingen, ihr Berufsethos zu verraten?

Die Angestellten im öffentlichen Dienst sind überzeugt, dass sie eine wichtige Aufgabe erfüllen, die ihnen ein großes Engagement abverlangt. Und sie wollen ihre Arbeit auch unter allen Umständen gut machen. Sie stehen dahinter, dass sie der Öffentlichkeit einen Dienst erweisen, und sind sich „bewusst, dass sie Frankreichs repu­bli­kanischen Geist verkörpern“.3 Diesem Idealismus wollte das moderne Management ein Ende setzen. Doch der Preis dafür ist hoch: Bei France Télécom nahmen sich in den Jahren 2008 und 2009 Dutzende Angestellte das Leben; heute sind es Mitarbeiter der Pariser Krankenhäuser, die Selbstmord begehen.

Den öffentlichen Dienst vor den Managern retten

Quelle   :     Le Monde diplomatique      >>>>>        weiterlesen

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Grafikquelle    :    Assemblée Nationale

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