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RENTENANGST

Flüchtlinge willkommen

Erstellt von Redaktion am Dienstag 30. Mai 2017

Karim, ich muss dich abschieben

File:Wien - Demo Flüchtlinge willkommen - Menschenrechte sind grenzenlos.jpg

Autor Hannes Koch

Stress – Vor einem Jahr hat unser Autor einen Flüchtling bei sich aufgenommen. Karim. Je länger der Syrer bei ihm wohnt, desto genervter ist der Gastgeber. Jetzt fragt er sich: Bin ich ein selbstgerechter Erste-Welt-Sack?

„Ich möchte mit Ihnen nur eine Woche bleiben.“ -„Bitte tötet mich nicht hier.“ „Ich schwöre ich sterbe.“ „You killed me.“

Diese WhatsApp-Nachrichten hat mir Karim geschickt. Er ist 21 Jahre alt, Flüchtling aus der Stadt al-Bab in Nordsyrien. Seit fast einem Jahr lebt er bei uns zu Hause.

Karim und ich sind ineinander verhakt, es geht nicht vor und nicht zurück. Ich will, dass er geht.

Gerade habe ich ihn zu der Wohnung gefahren, in der ich für ihn ein WG-Zimmer gemietet habe. Jetzt sitze ich vor der Tür im Auto. Karim und ich kämpfen miteinander per Kurznachricht. Gehe ich wieder hoch, nehme ich ihn wieder mit? Ich fürchte, dass er sich etwas antut. Oder macht er nur Druck? Diese Geschichte muss ein Ende haben.

Vor ziemlich genau einem Jahr ruft mich meine 19-jährige Tochter im Büro an. Sie habe im Club einen Flüchtling kennengelernt, der ein Bett brauche. Ja, sage ich, geht. Für ein paar Tage. Ob ich diese Einschränkung hinzugefügt oder nur gedacht habe, weiß ich nicht mehr. Als ich zu Hause eintreffe, hat meine Tochter in einer Ecke ihres Zimmers eine Matratze hingelegt und bezogen. Kiste daneben, Leselampe drauf. Ihren Bruder hat sie nicht gefragt. Mein 16-jähriger Sohn ist eben aus der Schule gekommen und unterhält sich mit Karim.

Viele im Merkel-Fanclub haben jetzt „einen Syrer“

Karim ist schüchtern. Wir sind schüchtern. Er setzt sich im Wohnzimmer auf die Kante des Sofas, wischt auf seinem Smartphone rum. Ich bitte ihn in die Küche, wir sitzen am Tisch. Er erzählt von al-Bab, damals Gebiet der IS-Kämpfer. Zum Fastenbrechen 2015 verließ er sein Elternhaus, um Lebensmittel einzukaufen. Als er zurückkam, fand er nur noch Trümmer. Eine Rakete hatte eingeschlagen. Mutter, Vater und sein kleiner Bruder – tot. Nach der Beerdigung haute Karim ab, durch die Türkei, Schlauchboot nach Lesbos, Balkanroute, Deutschland, eine Kleinstadt bei Berlin. Er zeigt Fotos von seinen Verstorbenen. Was gibt es da zu sagen? Wir gehen in einen Biergarten, um etwas zu essen. Unterwegs hebt er ein Papier vom Bürgersteig auf und wirft es in einen Mülleimer. Patenter Typ, denke ich.

Ich finde richtig, was ich tue. Ich fühle mich gut. Ein halbes Jahr dauert der große Run da schon an. Eine Million Flüchtlinge. Zu helfen erscheint naheliegend und nötig.

„Wie lange kann ich bei euch bleiben?“, fragt Karim nach ein paar Tagen. „Bis wir eine Wohnung für dich gefunden haben“, antworte ich. Abends bin ich bei Freunden eingeladen. Viele haben jetzt „einen Syrer“. „Unser Flüchtling hat gestern …“ – so beginnen die Erzählungen. Wir sind der Merkel-Fan-Club, obwohl wir nicht die CDU wählen.

Im Land Brandenburg, angeblich Dunkeldeutschland, wurde Karim bürokratisch bestens versorgt. Er hat eine dreijährige Aufenthaltserlaubnis, einen Personalausweis, einen Reisepass für den Schengenraum, eine Krankenversicherungskarte, Hartz IV. Und er darf arbeiten. Weil das Flüchtlingswohnheim, in dem er anfangs lebte, umgebaut wird, braucht er eine neue Bleibe. Wir melden ihn bei uns in Berlin an.

Sein Sprachunterricht beginnt jeden Tag um 13.30 Uhr. Bevor ich morgens ins Büro fahre, wecke ich Karim. Er steht kurz auf, legt sich dann wieder hin. Komme ich nachmittags nach Hause, liegt er ebenfalls im Bett. Er schläft und schläft. Zwischendurch schaut er stundenlang in sein Smartphone, um Kontakt zu seiner verlorenen Welt zu halten, zu seinen Onkels, Tanten, Cousins, Cousinen und Freunden, die ebenfalls auf der Flucht sind.

Er ist ein Sanfter, der den Harten gibt. Er trägt Armeehosen, fingerlose schwarze Handschuhe, an der Halskette einen stilisierten Säbel aus Blech, das Schwert Mohammeds. Ins Fitnessstudio geht er regelmäßig. Gerne postet er auf Facebook Fotos von seinem Sixpack, worauf er Hunderte Likes erhält. Freitag- und Samstagnacht feiert er durch. Er findet nette Kumpels, die mit beiden Beinen im Leben stehen und ihm helfen.

Mir bringt Karim ein bisschen Arabisch bei. Er erzählt von seinem Leben in Syrien, von den großen Familien. Man sei immer unter Verwandten und Freunden, ständig komme jemand zu Besuch. Er wundert sich über unser Alleine-Leben. Ich wohne in Berlin-Kreuzberg, meine Exfrau in Schöneberg. Unsere beiden Kinder sind eine Woche bei mir, eine bei ihr. Unseren Flüchtling tauschen wir im entgegengesetzten Rhythmus, weil weder sie noch ich ein extra Zimmer haben. Gemeinsam sind wir seine Ersatzfamilie.

Karim verhält sich wie unser Kater: essen, schlafen

Die Arabisch sprechende Psychologin, die wir um Hilfe bitten, attestiert Karim eine Traumatisierung und Depression. Er schläft schlecht, klagt über Albträume, die Bilder aus dem Krieg verfolgen ihn. Manchmal, wenn man ihn morgens weckt, schreckt er auf und sitzt kerzengerade im Bett. Sie sagt, wir müssten ihm Zeit geben, bis er zur Ruhe kommt. Ein langwieriger Prozess: Per Smartphone erfährt er, wenn wieder ein Cousin oder eine Tante in Syrien getötet wurde. Dann weint er. Ich lege meinen Arm um ihn und frage mich, ob es nicht besser wäre, den Kontakt zu seinem früheren Leben so lange abzubrechen, bis er neuen Boden unter den Füßen hat.

Ich lerne ihn kennen, seine Marotten ebenfalls. Die Zuckerdose steht immer in seinem Zimmer. Die Klobrille ist nass, weil er statt Papier Wasser benutzt. In der Dusche verstopfen seine schwarzen Haare das Abflusssieb. Nasse Handtücher wirft er in den Wäschekorb, wo sie vor sich hin modern. Gerne lässt er die Waschmaschine für vier Socken und drei Unterhosen laufen. In den elf Monaten bei uns macht Karim zweimal die Wohnung sauber. Ich sage ihm, was mich stört. Es ändert sich wenig.

File:Wien - Demo Flüchtlinge willkommen - Österreichischer Frauenring.jpg

Religion interessiert ihn kaum. Nur selten breitet er, um niederzuknien, sein Tuch auf dem Boden aus. Seltsamerweise betet er nicht Richtung Mekka, sondern gen Süden. Ich mache Witze darüber. „Du bist ein Freizeitrassist“, empört sich meine Tochter. „Und du hast gut reden“, sage ich. „Du hast den Typen angeschleppt, aber Mama und Papa erledigen die Arbeit.“

Eines Tages riecht es ganz elegant in unserer Küche. Ich gehe zum Badezimmerschrank und stelle fest: Karim hat mein Superteuerparfüm schon halb geleert. Er macht mir vor, wie die Mädchen vor Verzückung an seinem Hals hängen. Ich rege mich entsetzlich auf. Zahnbürste, Deo, Parfüm – privat! Muss man das wirklich erklären? Zwei Tage später benutzt er wieder mein Parfüm. Ich drohe, ihn rauszuschmeißen.

Als ich ein Wochenende verreisen will und Karim allein zu Hause bleibt, ordne ich an: Keine Party! Nach meiner Rückkehr finde ich Plastiktüten mit leeren Flaschen im Abstellraum. Karim erklärt: draußen gesammelt wegen Pfand. Wir fahren sie zum Supermarkt. Später erzählen mir Nachbarn, dass Karim einen Haufen Leute eingeladen hat und sie ihn bitten mussten, die Musik leiser zu drehen.

Es kommt selten vor, dass ich rumschreie. Nun passiert es. Weil Karim mich verarscht. Das kann ich mir von einem Erwachsenen, mit dem ich zusammenwohne, nicht bieten lassen. Es ist nicht nur eine Frage der Selbstachtung, sondern auch der Sicherheit. Mein Porte­mon­naie liegt offen herum, meine Bankkarten, im Notizbuch stehen die Zugangscodes zum Konto. Zur Strafe für den Vertrauensbruch schicke ich Karim weg: „Morgen kannst du wiederkommen.“ Meine Exfrau findet das angemessen.

Haben sich meine Kinder nicht ebenfalls manchen Scheiß geleistet? Bin ich ein selbstgerechter Erste-Welt-Sack, der sich nur gut fühlen, aber seine Komfortzone nicht verlassen will? Vielleicht.

Quelle : TAZ >>>>> weiterlesen

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Ein Kommentar zu “Flüchtlinge willkommen”

  1. Stefan Weinert sagt:

    Flüchtlinge – geltendes Recht einhalten, oder Nachsicht und Gnade walten lassen?
    oder: Das Gesetz ist für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für das Gesetz
    Von Stefan Weinert, Ravensburg (Theologe und Sozialaktivist)

    Immer wieder wird von verschiedenen Seiten angeprangert, dass das, was momentan im Rahmen der Flüchtlingsströme geschah und immer noch geschieht, gegen europäisches und deutsches Recht verstößt. Während die Einen für den ungehinderten Zuzug von Flüchtlingen plädieren, mahnen die Anderen zur Abschottung Europas und Deutschlands. Zwischen diesen beiden Extremen bewegt sich die derzeitige Politik.

    Bereits um das Jahr 1202 taucht in dem Buch „Iwein“ (Vers 172) des Dichters Hartmann von Aue die Redensart „Gnade vor Recht“ auf. Iwein ist ein Ritter der Tafelrunde des Königs Artus. Wolfram von Eschenbach nimmt in seinem „Parzival“ Bezug auf von Aues Werk. Es war eine Zeit, in der das Schwert regierte und nicht nur in ehrwürdigen Ritterrunden, sondern vor allem von Christen gegen den Islam (Saladin 1138 – 1193). In diesem Kontext bekommt das Wort „Gnade (Nachsicht) vor Recht“ gelten zu lassen. Und mit „Recht“ ist nichts anderes gemeint als die Gesetzgebung des jeweiligen Landes. Auf Englisch – unserer Weltsprache – lautet dieses geflügelte Wort „put mercy before justice“, was diese Auslegung unterstreicht. Die lateinischen Worte „gratia“ und auch das griechische „charis“ meinen in der gerichtlichen Rechtsprechung soviel wie „Begnadigung durch eine hohe staatliche Autorität, die rechtskräftig verhängte Strafen verkürzen oder gar aufheben.“ Recht muss immer „law in action“ sein, das durch humanes Handeln zur Geltung gebracht wird und sich in die Lebenswirklichkeit fügt. Ein legitimes Synonym für „Gnade“ ist die Barmherzigkeit. Als Martin Luther einst auf der Wartburg für das griechische Wort „eleémones“ aus der Bergpredigt Jesu eine deutsche Entsprechung suchte, die auch das einfache Volk versteht, wählte er das alte gotische Wort „armahairts“, einer Lehnübersetzung des lateinischen „misericors“, was so viel bedeutet wie „derjenige, der ein Herz für die Elenden hat“. Man kann es auch so sagen: barmherzig ist der, dessen Herz sich angesichts des Elends Anderer vor Mitfühlen umdreht.

    Da es nun auch heute im 21. Jahrhundert nach Christus immer noch Christen gibt, die das Schwert ihres Mundes“ gegen den Islam schwingen und dies mit der göttlichen Gesetzgebung des Alten Testamentes (Tora) begründen, hier eine Aussage Jesu in seiner berühmten Bergpredigt: „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, um das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen.“ Nun steht im griechischen Urtext dort, wo Luther mit „erfüllen“ übersetzt, das Wort „plerosai“, was eigentlich soviel wie „auffüllen“ bedeutet. Wenn aber etwas, z.B. eine Flasche Wein oder ein Gefäß mit Salbe noch aufgefüllt werden muss, dann fehlt zuvor etwas. Und wenn wir die Bergpredigt verfolgen, dann wissen wir auch, was dem „Gesetz und den Propheten“ (Pflichterfüllung) fehlt: Die Liebe (Freiwilligkeit). Und genau die hat der Zimmermann aus Nazareth uns Menschen gebracht. Und es kommt noch besser. Vor den Ohren der Superfrommen und Rechtgläubigen zitiert Jesus den Propheten Hosea und sagt:
    „Wenn ihr begriffen hättet, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer, dann hättet ihr nicht Unschuldige verurteilt.“ Nun war das Opferbringen im Alten Testament ganz klar geregelt und jeder musste sich dran halten, um Gottes Zorn abzuwenden. Das war Gesetz, das war die Rechtsprechung. Hosea war ein Mann des Alten Testaments und er wies seine Leute darauf hin, worum es Jahwe (Jehova) eigentlich geht. Jedoch vergebens. Im religiösen Wahn, Gott zu gefallen, verrichten auch heute viele Christen lange Gebete, fasten tagelang, feiern endlose Gottesdienste, spenden Gelder und bringen somit ihre Opfer. Und gleichzeitig verurteilen (das griechische Wort bedeutet hier: ein Urteil, einen Richterspruch über jemanden fällen) Mitmenschen – aktuell die Flüchtlinge und unter ihnen besonders die Muslime – , die eigentlich unschuldig sind.

    Einmal ging Jesus mit seiner Mannschaft am Rande eines reifen Kornfeldes entlang. Petrus und seine elf Freunde hatten mächtigen Hunger. Es war an einem Sabbat. Nun rupfte sich zunächst Petrus, dann Johannes, dann Andreas und bald alle Zwölfe Ähren und kauten die Körner, so wie sie es sich von den römischen Soldaten abgeschaut hatten. Das nun beobachteten die frommen Pharisäer und warfen Jesus vor, wie er es als Rabbi und Schriftkundiger zulassen könne, dass seine Jünger etwas tun, was man von den „biblischen“ Gesetzesvorschriften her an einem Sabbat nicht tun darf. Mir wäre da keine passende Antwort eingefallen und ich hätte wohl klein beigegeben. Doch Jesus war nicht auf den Mund gefallen und macht den „Hypergeistlichen“ klar, dass Hunger und Durst des Menschen mächtiger sind als irgendein Gesetz und dass das Stillen dieser menschlichen Bedürfnisse vor Erfüllung irgendeiner Vorschrift steht: „Der Sabbat ist um des Menschen Willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen.“ Mit anderen Worten: Die Not des Menschen kommt vor Einhaltung irgendwelcher Vorschriften und Gesetze.

    Stefan Weinert, Ravensburg Oktober 2015 / September 2017

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