Wenn Ihr entfernter Urahn einmal jemanden gekannt haben sollte, der an der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung mitwirkte und berühmt wurde, und wenn Ihr Großvater einer der berühmtesten unter den Verbrechern des »Dritten Reichs« gewesen wäre, dann hätten Sie vielleicht ein Identitätsproblem. Falls noch ein bisschen Familienvermögen übrig ist, könnten Sie die Sache auf dem Golfplatz oder im Café Einstein aussitzen. Sie müssen aber nicht. Sie können sich auch etwas anderes einfallen lassen. Menschen aus der Nachkriegsgeneration wissen oder ahnen, dass das nicht ganz einfach ist, jedenfalls nicht immer. Der Schriftsteller Ferdinand von Schirach – Jahrgang 1964 – ist allerdings definitiv kein desorientiertes Nachkriegskind, sondern ward hineingeworfen in die Gnade einer wirklich späten Geburt.
Man hat Möglichkeiten. Man kann Rechtsanwalt werden, True-Crime-Autor mit Fällen aus der Literatur, die man aufbereitet, als ob das Gerücht zuträfe, es seien solche aus der eigenen Kanzleivergangenheit. Man kann über schlichte Fragen sehr bedeutend klingende Theaterstücke schreiben oder umgekehrt. Man kann mit Herrn Döpfner spazieren gehen oder sieben ARD-Intendantenriesen gleichzeitig bezaubern, ein mittelstufengeeignetes Existenzialgeplauder mit Zuschauerquiz zeitgleich zur Primetime auszustrahlen. In all diesen Fällen geht es einem, wenn’s gut geht, gut, wogegen niemand etwas einwenden sollte, der’s nicht besser kann.
Von allen Möglichkeiten eine allerdings doch eher fernliegend erscheinende ist es, sich auf den moralischen Flügeln der erwähnten Dynastie von Bekennern, unerschötterlich Gläubigen und Bekannten von Menschheitsbeglückern an die Seite von Thomas Jefferson zu begeben, um das alte Europa durch Erschaffung einer Magna Charta Nova in ein neues Jahrtausend zu befördern. Dazu muss man dann schon ein sehr ordentliches Sendungsbewusstsein haben. Wie wir seit Stefan George wissen, mangelt es dem deutschen Dichter hieran selten, und manchmal liegt es ja auch in der Familie. Herr von Schirach, Spross derer von Schirach, lässt es sich nicht nehmen, die Motivation für sein neuestes Buchprojekt auf das Wirken der beiden genannten Vorfahren zu stützen. So kommt der weiland Reichsjugendführer zu einem späten Einsatz als Werbeträger. In Berlin, Berlin, so muss man rufen, ist wirklich vieles möglich.
Projekte
Was braucht es, um das alte Europa zum neuen Land der Tapferen und Freien zu machen? Für Juristen ist die Sache klar: Ein Gesetz muss her. Für die ganz großen Fragen nehmen wir da am besten gleich eine Verfassung oder etwas Ähnliches oder sogar noch Besseres, also vielleicht eine »Charta« oder eine »Konvention«. Kurz gesucht und schnell gefunden. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Dokument 2010/C 83/02, Amtsblatt der Europäischen Union Nr. C 83 vom 30.03.2010, S. 189). Man kann das, samt Entstehungsgeschichte, im Internet rasch finden. Falls Ihnen, sehr geehrte Leser, die Grundrechtecharta bisher noch nicht geläufig ist, sollten Sie sich fragen, woher das kommt. Liegt es an Ihnen, an Europa oder daran, dass die entscheidenden Bestimmungen fehlen? Oder mangelt es der Sache irgendwie am praktischen Drive?
Was in der Europäischen Grundrechtecharta steht, kommt normenhierarchisch ganz knapp hinter den Zehn Geboten, allerdings nur in der Moral. In der Wirklichkeit ist es etwas anstrengender, weil da noch der Europäische Unionsvertrag, 27 nationale Verfassungen und allerlei sonstige Normenvielfalten zu beachten sind. Da hatte es Moses leichter, der sich für die Ausführungsgesetze 3000 Jahre Zeit lassen konnte und außerdem eine Zentralregierung bediente und keine 16 Ministerpräsidenten.
Falls Sie nicht so der Typ für die Feinarbeit sind und mehr dem großen Ganzen und Genialischen zuneigen, wäre es nicht angemessen, vielleicht sogar ein bisschen unter Ihrer Würde, sich mit Überlegungen zum Verfassungsrecht oder zu Fragen nach dem Unterschied zwischen objektiven und subjektiven Rechten, zwischen Moral und Recht oder zwischen Pursuit of Happiness und informationellem Selbstbestimmungsrecht aufzuhalten. Auch den Raum zwischen Politik und Kunst sollten Sie mit Blick auf die Beschränktheit allen menschlichen Strebens vielleicht nicht näher erkunden, es sei denn, Sie sind ein Beuys oder ein Schlingensief oder allermindestens ein Sonneborn. Alle anderen, die sich stilistisch eher zwischen Wagner, Léhar und Modern Talking einpendeln, besorgen sich eine Hilfstruppe, die sich ein bisschen mit dem Rechtskram auskennt oder diesen Eindruck erwecken könnte. Ich möchte an dieser Stelle, das sogenannte »Projekt Jeder Mensch« betreffend, nicht über fremde und sicher wohlmeinende Menschen lästern und sie bei ihren Namen rufen. Nur so viel sei verraten: Es sind ein paar Juristen unter den »Mitarbeitern« und Daumendrückern; aber auch Gesichter aus Spartenprogrammen und Klubs, von Comedy bis Finca-Szene. Da ist gar nichts dagegen einzuwenden.
Und der Onlinebewegung sind inzwischen etwa 90.000 Menschen – wie mir scheint, aus Deutschland – beigetreten. Das klingt zugegebenermaßen nicht überwältigend europäisch, was ein erster Einwand sein könnte: Aus Portugal und Slowenien wurde offenbar noch niemand gefragt, ob er mit Herrn Schirach eine rauchen möchte. Aber das kann ja noch kommen, und Frau Thunberg hat ja auch erst mal in Schweden gesessen. Und wenn alle Stricke reißen, sind das 90.000 verkaufte Büchlein am Tag des Erscheinens, und Platz 3 auf der Bestsellerliste ist zumindest mal ein schöner Anfang.
Quelle : Spiegel-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — German lawyer and writer de:Ferdinand von Schirach