Fehler am BGH
Erstellt von Redaktion am Montag 29. Oktober 2018
Kann schon mal passieren
Eine Kolumne von Thomas Fischer
Fehler werden überall gemacht, auch am obersten Gerichtshof. Leider tut man sich hier mit dem Eingeständnis der eigenen Fehlbarkeit schwer. Dabei wäre Fehlerkultur in der höchsten Rechtsprechung besonders wichtig.
Fehlerkulturen
Menschen machen Fehler. Die meisten und schwersten Fehler machen regelmäßig die jeweils anderen. Je kleiner eine Gruppe, desto leichter sind ihre Angehörigen für alle anderen als „Andere“ auszumachen, und je umfangreicher oder schwieriger ihre Aufgaben, desto einfacher erscheint es allen, ihre Fehler zu erkennen. Davon können „die Politik“, „die Banken“, „die Justiz“ und „die Presse“ ein Lied singen. Es kann aber auch jedes andere soziale System treffen, von „die Autowerkstätten“ bis „die Zahnarztlobby“.
Fehler allgemein
Sozialpsychologisch interessant sind Konstruktionen, aus denen sich einerseits die jeweilige Beurteiler-Position ergibt, indem ungenaue soziologische Begriffe mit opfermoralisch aufgeladenen Jammer-Positionen kombiniert werden – also etwa „die Patienten“, „die Bahnkunden“, „die Steuerzahler“. Hierdurch wird andererseits das Fehlen der eigenen Expertise argumentativ kompensiert. Solche Konstruktionen steigern sich von „die Betroffenen“ (eignet sich für investigative Enthüllungen) über „Fachleute meinen“ (gern ganz junge „Wissenschaftler“ oder sehr alte Emeriti) bis zum ultimativen „die Bevölkerung“, die in der Weidel-Höcke-Welt „Volk“ (oder „liebes Volk“) heißt.
Rechtsfehler
Im Rechtsbereich, speziell im Strafrecht, sind die Gruppen der von Fehlern Betroffenen um keinen Deut kleiner, die Fehlerquellen meist klar erkennbar: „die Gerichte“, „die Staatsanwaltschaften“, „der Gesetzgeber“. Wichtige Fehlerproduzenten sind „unsichere Zeugen“ und „zweifelnde Sachverständige“. Ausgeschlossen als Fehlerquellen sind „die Opfer“, „die Öffentlichkeit“ sowie „der juristische Laie“ (auch „der einfache Bürger“ genannt).
Vertiefte Sachkenntnis erleichtert die Aufdeckung fremder Fehler nicht unbedingt. Gerade die groben und offenkundigen Fehler springen ja dem „Normalbürger“ umso leichter ins Auge, je weniger er sich zuvor mit der Sache beschäftigt hat. Auch das Aufspüren von strafgerichtlichen Fehlern ist aus dieser Perspektive eine Sache von Sekunden. Den meisten reicht schon das Überfliegen zusammenfassender Analysen („Skandal“, „Mörder freigelassen“, „Ohne sichtbare Regung nahm sie das Urteil entgegen“, und so weiter). Der Profi muss sich etwas mehr anstrengen, weil er meistens weiß, wie schwer es ist, zwischen goldrichtig und voll daneben zu unterscheiden. Am leichtesten haben es da noch die Strafverteidiger: Sie folgen im Zweifel der Intuition ihrer Mandanten, wonach der zentrale Fehler des angefochtenen Urteils darin besteht, dass es überhaupt ergangen ist.
Oberstes Gericht
Unter den sozialen Institutionen, die ständig schwere Fehler machen, sind – neben den Organen zur Überwachung des ruhenden Verkehrs – die Gerichte die auffälligsten, jedenfalls manche von ihnen. Gerichte entscheiden über konkrete Konflikte nach abstrakten Regeln. Genau das aber können die einen oft so wenig ertragen wie die anderen. Sie müssen es, weil es keine Alternative gibt außer der Gewalt. Weil das alles so ist, kommt es auf die Fehlerkultur der Strafjustiz stark an: Für den „Sinn“ des Vertrauens, für die Zuversicht in den Frieden, für die Hoffnung darauf, dass auch in Zukunft eine legitime Macht das Richtige vom Falschen unterscheiden wird.
Grundsatz
Ein oberstes Gericht ist (bei uns) ein oberstes Fachgericht, in der Abteilung „ordentliche Gerichtsbarkeit“ ist das der Bundesgerichtshof (BGH). Von 17 Senaten sind dort fünf Strafsenate (mit knapp 40 Richtern – etwa genauso viel wie schon seit 40 Jahren, obwohl seither 17 Millionen Bürger dazugekommen und viele Verfahren wesentlich aufwendiger geworden seid). Die Strafsenate haben die Aufgabe, erstinstanzliche Urteile von Landgerichten daraufhin zu untersuchen, ob sie Rechtsfehler enthalten. Dazu prüfen sie diese (schriftlichen) Urteile. Es gibt zwar auch (wenige) Hauptverhandlungen, aber auch da geht es nicht um Tatsachen. Da der Gegenstand der Prüfung somit allein die schriftliche Urteilsurkunde ist, muss man sie genau lesen. Drei Fünftel der höchstrichterlichen Fehlerprüfer begnügen sich allerdings in 95 Prozent aller Fälle damit, dass ihnen der Inhalt der hundertseitigen Akten einmal kurz erzählt wird – 10, 15, manchmal 25 Stück an einem Tag. Wenn man das anders machen würde, könnte man nämlich „die Arbeit nicht schaffen“ (meint: die geforderten 650 Akten im Jahr pro Senat nicht erledigen). Damit dieser schreckliche Verdacht nicht aufkommt, heißt es: Augen zu und durch.
Aus demselben Grund müssen (!) – fernab der gesetzgeberischen Intention – 95 Prozent aller Fälle einstimmig entschieden werden. Denn jeder Widerspruch eines der fünf Richter führt zur Notwendigkeit einer Hauptverhandlung und verzögert den „reibungslosen“ Erledigungsablauf. Wer 15 Jahre mit denselben Kollegen in der Kleingruppe eines Senats zusammenarbeiten muss, überlegt sich sehr genau, wie oft er der „Einstimmigkeit“ nicht zustimmen darf, bevor er oder sie im Haus als „schwierig“ gilt. Die „Einstimmigkeits“-Beschlüsse wurden einmal für die die ganz wenigen „sonnenklaren“, offenkundigen Fälle eingeführt. Inzwischen machen sie mehr als 90 Prozent aller Entscheidungen aus, und von „Offensichtlichkeit“ kann überhaupt keine Rede mehr sein.
Quelle : Spiegel-online >>>>> weiterlesen
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