Europa im freien Fall
Erstellt von Redaktion am Freitag 17. Mai 2019
Europa und die Krise
von Achim Engelberg
Soeben hat Ian Kershaw seine weitverzweigte, zweibändige Geschichte unseres Kontinents vollendet. Sie ist für ein breites internationales Publikum geschrieben und umfasst die Zeit vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis ins Jahr 2017. Bis kurz vor der Zielgerade bleibt sie ein Meisterwerk eines liberalen Geistes.
Aber der Reihe nach: Im ersten Band, „Höllensturz. Europa 1914 bis 1949“, bleibt der emeritierte Historiker der Universität Sheffield auf dem Gebiet seiner Forschung, die spätestens mit seiner monumentalen Hitler-Biographie eine breite Leserschaft gefunden hat. In jenem Auftaktband schildert er in zehn anschaulichen Kapiteln die Geschichte der Selbstzerstörung Europas. Dabei bändigt Kershaw die schiere Fülle seines Materials, indem er analytisch die Hauptelemente dieser Epoche herausarbeitet: von der „explosionsartigen Ausbreitung eines ethnisch-rassistischen Nationalismus“ über „erbitterte und unversöhnliche territoriale Revisionsforderungen“ und einen „akuten Klassenkonflikt, der mit der bolschewistischen Revolution in Russland einen konkreten Schwerpunkt erhielt“, bis hin zur „langanhaltenden Krise des Kapitalismus (die viele Beobachter für letal hielten)“.
Im zweiten, nun auf Deutsch erschienenen Band, „Achterbahn. Europa 1950 bis heute“, widmet sich der 1943 geborene Brite seiner Erlebniszeit. Dabei schildert Kershaw auch eigene Erfahrungen und illustriert damit etwa, wie spät der Mord an den europäischen Jüdinnen und Juden in den Fokus der Geschichtsbetrachtung und ins Zentrum der Selbstanalyse Westeuropas rückte. So nahm Kershaw noch 1979 an einer großen Konferenz über den NS-Staat teil, ohne dass auch nur „eine Studie über den Holocaust vorgestellt wurde. Nur wenige Jahre später wäre dies undenkbar gewesen.“
Anders als im ersten Band fehlen die herausragenden Themen: Das Zeitalter gibt sie schlicht nicht her, es ähnelt mehr einer Achterbahn. Die Titelmetapher schränkt Kershaw jedoch insofern ein, als es keinen festen Schienenstrang gibt, auf dem sich die Ereignisse bewegen. Doch erfasse dieses Bild „die Wechselhaftigkeit, die atemberaubenden Augenblicke und das Gefühl, von unbeherrschbaren Kräften mitgerissen zu werden“. Passend dazu stellt der Historiker einem Kapitel ein Zitat von Jean-Paul Sartre aus dem Jahr 1951 voran: „Ich bin keiner Sache mehr gewiss.“
Ian Kershaw eignet eine großartige Weite des Blickes, sein Stil ist vom Willen zur Genauigkeit beseelt. Stets wird berichtet, was von einer Tat zu wissen ist und wie sie wirkte. Über die RAF-Terroristen in Stammheim beispielsweise heißt es nicht, sie begingen 1977 Suizid, sondern: „Offiziellen Untersuchungen zufolge – an denen viele zweifelten – hatte zwischen ihnen ein Selbstmordpakt bestanden.“ Kershaw bevorzugt technische Ausdrücke für eine Ära, in der Warhol The Factory gründete, Pink Floyd „Welcome To The Machine“ sangen und Heiner Müller die „Hamletmaschine“ schrieb. Anstelle des allbekannten Ausdrucks Tauwetter für die Ära nach Stalins Tod im Jahr 1953 benutzt er die Metapher des Schraubstocks: Dieser kann gelockert oder fester gezogen werden, das festgehaltene Objekt aber bleibt gleich.
Häufig kommt Kershaw auf die unverzichtbare Rolle von Einzelnen zu sprechen, die aber von der Macht der Massen unterstützt werden müssen, um dauernde Resultate zu erreichen. Oft verdeutlicht der Historiker dies in vergleichender Perspektive, etwa wenn er den Gegensatz zwischen Michail Gorbatschow und Deng Xiaoping beschreibt: Der russische Revolutionär von oben kritisierte den chinesischen Politiker als naiv, der asiatische Reformer wiederum hielt den sowjetischen Präsidenten für einen Idioten. Doch während der russische Ikarus abstürzte, steuern die Nachfahren des chinesischen Dädalus das Staatsschiff bis heute – mit teilweise beängstigenden Resultaten.
Allgegenwärtige Krisen
Was unterscheidet Ian Kershaws Geschichte Europas von anderen? Was macht sie zu einer Ausnahmeerscheinung? Erhellend bleibt dabei der Vergleich mit Büchern britischer Historiker, die ebenso für ein internationales Publikum schrieben. Als Zeitzeuge und großer Historiker bleibt für Kershaw sein älterer Kollege Eric Hobsbawm (1917 bis 2012) eine Referenz. Dessen Werk „Das Zeitalter der Extreme“ enthält trotz aufschlussreicher Abschnitte zur Welt jenseits unseres Kontinents einen starken europäischen Kern. Schon die Dreiteilung des Buches – „Das Katastrophenzeitalter“, „Das Goldene Zeitalter“, „Der Erdrutsch“ – lässt das erkennen. Selbstverständlich erwähnt Hobsbawm etwa die Hungersnöte und die Kulturzerstörung im China der Mao-Zeit, aber sie passen so gar nicht zur Periodisierung einer goldenen Ära.
Quelle : Blätter >>>>> weiterlesen
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Grafikquelle : Karikatur von Gerhard Mester Weiter so
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