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Erdogans – Welt

Erstellt von Redaktion am Freitag 19. Mai 2017

Die Welt aus der Sicht Erdoğans

File:Erdogan gesturing Rabia.jpg

Autor  Jean Marcou

Präsident Erdoğan baut die Türkei nicht nur im Innern um. Auch in der Außenpolitik setzt er neue Prioritäten. Er will das Verhältnis mit Russland und dem Iran verbessern, ohne es sich mit den USA zu verderben. Dabei gibt es jedoch ein großes Hindernis: Erdoğans aggressive Politik gegenüber den türkischen wie den syrischen Kurden.

Seit Recep Tayyip Erdoğan im August 2014 zum türkischen Präsidenten gewählt wurde, versucht er mit seiner Außenpolitik auf zwei Entwicklungen zu reagieren: auf den Verlauf des syrischen Bürgerkriegs und auf die innenpolitische Situation im eigenen Land. Im Arabischen Frühling 2011 glaubte Er­do­ğan noch, seine seit 2002 regierende AKP sei als islamisch-konservative politische Kraft ein demokratisches Vorbild für den gesamten Nahen Osten. Die Diplomatie der guten Nachbarschaft von Außenminister Ahmet Davutoğlu und die dynamische wirtschaftliche Entwicklung rundeten das positive Image der Türkei in der Region ab.

Dieses Image ist inzwischen beschädigt: Die undurchsichtige Haltung der türkischen Regierung gegenüber dschihadistischen Gruppen in Sy­rien, die Nähe zu umstrittenen islamistischen Regierungen in Ägypten und in Tunesien und die gewaltsame Niederschlagung der Gezipark-Proteste im Frühling 2013 sind wesentliche Gründe dafür.

Im syrischen Bürgerkrieg musste die Türkei seit 2015 auf zwei neue Faktoren reagieren: auf das direkte Eingreifen Russlands und auf die Aufwertung der YPG (bewaffnete Einheiten der Partei der Demokratischen ­Union PYD). Diese mit der PKK eng verbündete syrisch-kurdische Organisation trug, unterstützt vom Westen, in dieser Phase die Hauptlast im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ (IS). In diesem Kontext war die Zunahme von Terroranschlägen durch Dschihadisten wie Kurden auf türkischem Boden der Preis, den Ankara für sein riskantes Mitmischen in der Syrienkrise und seine Missachtung der kurdischen Hoffnungen entrichten musste.

Unter dem Druck dieser Entwicklungen hat die Türkei ihre diplomatische und geostrategische Linie revidiert, und zwar vor dem Hintergrund eines innenpolitischen Umbaus, mit dem Erdoğan seine Machtstellung immer weiter verstärken will. Die neue Außenpolitik, die Regierungschef Binali Yıl­dı­rım mit der Formel „mehr Freunde als Feinde“1 artikuliert hat, versteht sich in erster Linie pragmatisch. Einen wichtigen Unsicherheitsfaktor stellt dabei jedoch der neue US-Präsident Donald Trump dar, von dem man nicht weiß, wie sehr er die empfindliche Balance in der Region erschüttern wird.

Teil des diplomatischen Kurswechsels der Türkei war die Annäherung an Saudi-Arabien, die mit einer Abwendung vom Iran einherging. Im Januar 2015 brach Erdoğan eine Afrikareise ab, um am Begräbnis von König Abdullah in Riad teilzunehmen. Außerdem rief er eine eintägige Staatstrauer aus. Diese Kursänderung kam in der Türkei nicht gut an, schon gar nicht bei der laizistischen Partei HDP.2

Korrigiert wurde sie nicht. Im März 2015 lobte Erdoğan die saudische Mili­tär­inter­vention im Jemen und warf der iranischen Regierung vor, den Nahen Osten beherrschen zu wollen.3 Und im Januar 2016 weigerte er sich, nach seinem Staatsbesuch in Saudi-Arabien die Hinrichtung des schiitischen Dissidenten Ajatollah Bakr al-Nimr in Riad zu verurteilen, die zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Riad und Teheran führte.

Vor 2015 hatte sich Ankara nie in die sunnitisch-schiitische Konfron­ta­tions­logik hineinziehen lassen. Noch im März 2011 kritisiere die türkische Regierung, dass Truppen des Golf-Kooperationsrats (GCC) die vor allem von Schiiten angeführte Rebellion in Bahrain niederschlugen. Im selben Monat hatte Erdoğan, damals noch Regierungschef, während eines Irakbesuchs für eine Sensation gesorgt, als er in der Iman-Ali-Moschee von Nadschaf betete und von diesem schiitischen Heiligtum aus die muslimische Welt vor der Spaltung durch Sektierer warnte.

Die Revision der türkischen Po­si­tion zum saudisch-iranischen Konflikt ist nicht religiös motiviert. Sie soll Ankara vor allem ein Comeback auf dem syrischen Terrain erleichtern. Bei den Verhandlungen mit der saudischen Regierung geht es vor allem um verstärkte Hilfe für Rebellengruppen in Syrien. Zugleich will Ankara die USA überreden, die Freie Syrische Armee (FSA), die das Assad-Regime seit 2011 bekämpft, aktiver als bisher zu unterstützen.4

Hinwendung zu Saudi-Arabien

Um ihre Neuorientierung glaubwürdig zu machen, muss die türkische Regierung allerdings das anrüchige Image des IS-Verbündeten wieder loswerden, das ihr seit der Belagerung der syrischen Stadt Kobani durch die Dschihadisten im September 2014 anhängt. Damals wurden die Verteidiger der Stadt, die kurdische YPG und die PKK, durch westliche Luftschläge unterstützt. Die türkische Armee dagegen stoppte Konvois kurdischer Kämpfer, die ihren Lands­leuten in Kobani zu Hilfe eilen wollten.

Nach dem Terroranschlag in der Grenzstadt Suruç vom 20. Juli 2015, der dem IS zugeschrieben wurde, gestattete Ankara der internationalen Koa­li­tion dann allerdings die Benutzung des Luftwaffenstützpunkts İncirlik im Kampf gegen den IS. Damit begann eine Entwicklung, die es der türkischen Armee erlaubte, sich als entschiedener Gegner des IS zu profilieren.

Dieser Kurswechsel wirkte anfangs wenig glaubwürdig, weil die türkische Armee PKK-Truppen im Nord­irak und Einheiten der PYD in Syrien noch viel häufiger angriff als die Kämpfer des IS. Dennoch wurde die Türkei ab Ende 2015 zum Hauptziel der IS-Terroristen. Seither hat die Polizei zahlreiche Dschihadistenzellen auf türkischem Boden zerschlagen. Und im Mai 2016 nahm die Armee die Angriffe des IS auf die an Syrien grenzende türkische Provinz Kilis zum Anlass, erstmals Panzer auf syrisches Territorium zu entsenden.

Quelle  : Le Monde diplomatique >>>>> weiterlesen

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Ein Kommentar zu “Erdogans – Welt”

  1. Henry Paûl sagt:

    DER TURMBAU ZU KONSTANTINOPEL (Istanbul)
    Von Henry Paûl, Prenzlau

    In dem, was der türkische Präsident Recep Erdogan anstrebt und vor allem mit welchen Mitteln er es seit Jahren anstrebt, erweist er sich als Neurotiker. Ich scheue den Vergleich mit dem römischen Kaiser Nero, dem Diktator Adolf Hitler und Joseph Stalin nicht. Es braucht hier nicht alles aufgezählt werden, was sich der in die EU strebende Mann vom Bosporus .in den vergangenen 18 Monaten bis auf den heutigen Tag „geleistet“ hat. Jedoch hervorzuheben sind die tausendfachen Verhaftungen von Staatsbediensteten und anderen angeblichen oder tatsächlichen Gülen-Anhängern nach dem „Putsch“ 2016, die Verhaftungen von freiheitsliebenden Journalisten (seit 210 Tagen sitzt der deutsch Staatsbürger, Deniz Yücel, der am 10.9.2017 seinen 40.ten Geburtstag „feierte“, in Haft) und neuerdings die Reisewarnungen für Türken von „Erdoghanistan“ nach Deutschland.

    Jede neurotische Störung hat ihre Ursache in der Kindheit. Angst vor Triebimpulsen führen zu Übererwartungen. Überkompensation und Riesenansprüche, wie sie Herr Erdogan ganz offensichtlich hat, haben ihre Wurzeln in Enttäuschungen und Minderwertigkeitsgefühlen. Riesenansprüche führen zu gewaltigen Überforderungen, mit dem Ergebnis der eigenen Unzulänglichkeit. Die Folge ist ein erneutes „Überschießen“ und führt zu erneuten Minderwertigkeitsgefühlen. Dieser „circulus vitiosus“ intensiviert das so entstehende dialektische Gefüge von Minderwert und Überkompensation mehr und mehr. Da gibt es kein zurück, sondern nur die Flucht nach vorn. Während eine normale Kompensation zu einer Ausgewogenheit führt bzw. führen soll, will die Überkompensation nach „ganz oben“, an die Spitze – und zwar allein, damit sie den anderen nicht mehr unterlegen ist. Überkompensation führt zu Überreaktion. Das biblische „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, das eigentlich die Ausgeglichenheit bei der Vergeltung garantieren sollte, wird bei der Überkompensation zum „Auge um Augen, Zahn um ganzes Gebiss“ usw.

    Die neurotische Dialektik von Selbstentwertung und Selbstüberhöhung führt zu einer sich ständig erweiternden Armut, die aber von dem Neurotiker selbst als fortschreitender Machtzuwachs gedeutet und auch empfunden wird. Doch je höher der Mensch will und je höher er gelangt, desto mehr bleibt die Menschlichkeit auf der Strecke. „Höhe“-punkt ist dann die Auflösung der menschlichen Gemeinschaft (=soziale Ordnung, Ethik, Moral, Humanität) und die „Zerstreuung über die ganze Erde“, wie uns die (mythologische?) Erzählung aus Genesis 11 (Turmbau zu Babel) verrät. Je höher die Menschen ihre „Türme“ bauen, desto größer sind ihre inneren Probleme. Denn letztlich ist jeder „Turmbau“ das Bemühen einer Deifikation (selbst Gott zu werden) mit dem Ziel, „sich in der Welt einen Namen zu machen“. Siehe die sich in Höhe konkurrierenden Türme von Kirchen (Ulmer Münster, Kölner Dom, der gleich zwei Türme hat) und Minaretten.

    Die Angst, ein Nichts zu sein und ins Nichts zu fallen, zwingt den Neurotiker dazu, seine Anstrengungen in Gang zu halten, und macht aus dem menschlichen Dasein ein „ens curvatum in se ipsum“ (das auf sich selbst Zurückgebogene und in sich selbst eingesperrte Dasein). Diese spiralförmigen Teufelkreise können eigentlich nur in die Katastrophe und den Wahnsinn führen, wie uns die Geschichte immer wieder gelehrt hat.

    Henry Paûl, Prenzlau

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