Elchtest für die Sozis
Erstellt von Redaktion am Mittwoch 12. September 2018
Wahlen in Schweden
Von Gunnar Hinck
Die schwedischen Sozialdemokraten haben einen historischen Absturz hingelegt. Die Ursachen liegen weniger in der Migrations- als in der Sozialpolitik.
In der Wahlnacht konnte man im schwedischen Staatsfernsehen einen Akt des subversiven Widerstands beobachten: Stundenlang schaltete der Sender SVT nicht zur sozialdemokratischen Wahlparty, stattdessen sendete er meist von den überschaubaren Partys der kleinen Parteien. Offenbar hatte der Sender die Nase voll von den Durchhalteparolen angesichts der Wahlniederlage. Man freue sich, dass man besser abgeschnitten habe als in den Umfragen prognostiziert, hatten die sozialdemokratischen Funktionäre in die Mikrofone gesprochen. Was man eben so sagt, wenn man schlechte Ergebnisse schönreden muss.
Am Sonntag haben die rechtspopulistischen Schwedendemokraten 17,6 Prozent der Stimmen geholt, während die jahrzehntelang dominierenden Sozialdemokraten auf historisch niedrige 28,4 Prozent abgerutscht sind. „Historisch“ ist wörtlich gemeint: Es ist das schlechteste Ergebnis seit 1911 (!), dem Jahr, in dem im Land freie Wahlen eingeführt wurden. Die Partei, die Schweden mit ihrem „Volksheim“ geprägt hat wie keine andere, liegt am Boden.
Medien und Meinungsmacher im In- und Ausland hatten den vermeintlichen Grund für den Rechtsruck bereits vor der Wahl ausgemacht: Schuld sei die zu liberale Einwanderungspolitik; die Grenze des Zumutbaren sei erreicht. In der Tat nahm Schweden 2015 im Verhältnis zur Einwohnerzahl ähnlich viele Flüchtlinge auf wie Deutschland.
Aber stimmt die These? Schweden hat eine jahrzehntelange Tradition der Migration. Nach einer Zeit der Arbeitsmigranten aus Südeuropa nahm das Land ab den achtziger Jahren Zehntausende Libanesen, Eritreer, Somalier, Syrer und Bosnier auf, ohne dass es zu einem nennenswerten Protest von rechts kam. Allein Mitte der neunziger Jahre kamen 100.000 Flüchtlinge ins Land. Sogenannte Problemviertel, in die vor der Wahl die Reporter ausschwärmten, beschränken sich im großflächigen Land auf einzelne Stadtteile in Stockholm, Göteborg und Malmö. Eine umfangreiche Langzeitstudie der Universität Göteborg stellt weiterhin eher positive Einstellungen zur Migration fest; einzig die ablehnende Haltung der Einwanderungsgegner hat sich verstärkt.
Die Einwanderung konnte nur deswegen so stark von den Rechtspopulisten zum dominierenden, polarisierenden Thema gemacht wurden, weil sich in den Jahren zuvor tiefer liegende Brüche im Land abgezeichnet haben, die in dem konsensverliebten Land nie offen verhandelt wurden. Die Einwanderungsfrage ist nur der Anlass, nicht die Ursache für die Rechtsverschiebung.
Die schwedische Gesellschaft beruhte auf einer Art Vertrag zwischen BürgerInnen und Staat: Du zahlst relativ hohe Steuern, dafür bekommst du über Umverteilung eine relativ gleiche Gesellschaft, ein hervorragendes Bildungssystem und ein steuerfinanziertes Gesundheitssystem, das allen zugänglich ist. Dazu gab es eine konsequente Geschlechtergleichstellungspolitik obendrauf. Dieser Vertrag wurde in den 90er Jahren vonseiten der Politik gebrochen, und die „Sossen“, wie die Sozialdemokraten im Land genannt werden, waren vorne dabei. Seit über 25 Jahren macht der Wohlfahrtsstaat eine Transformation durch, die in Westeuropa ihresgleichen sucht. Die Einkommensungleichheit im Land steigt rasant, wie die OECD feststellt. Im Gesundheitssystem sind Mangel und lange Wartezeiten für Operationen seit Jahren ein Problem. Wer das nötige Geld hat, kauft sich private Leistungen. Gewinnorientierte Privatschulen sind inzwischen erlaubt, was die soziale Auslese verstärkt, denn Privatschulen siedeln sich vorzugsweise in „besseren“ Vierteln an.
Quelle : TAZ >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Schengen Grenzübergangsschild – Schweden
Author | Matthew Ross (Matthewross) / Own w3ork |
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