DEMOKRATISCH – LINKS

                      KRITISCHE INTERNET-ZEITUNG

RENTENANGST

Ein Dorf im Nildelta

Erstellt von Redaktion am Dienstag 5. März 2019

Mein Dorf

Die Provinzhauptstadt  Mansoura

Aus Ezbat El-Gawhary Karim El-Gawhary

Die Familie unseres Mitarbeiters KarimEl-Gawhary stammt aus einem Bauernort im Nildelta. Das Leben der Onkel und Tanten scheint traditionell geprägt. Doch die neue Zeit bricht auch hier herein.

s ist ein mühsamer Weg in das Dorf, das mein Großvater Tawfik El-Gawhary vor 85 Jahren im Nildelta gegründet hat. Die erste Stunde nördlich der ägyptischen Hauptstadt Kairo, wo sich der Nil in zwei Arme Richtung Mittelmeer teilt, geht es noch auf einer dreispurigen gut ausgebauten Autobahn ins Delta. Dann werden die Straßen immer enger und holpriger, entlang der kleine Feldparzellen, unterbrochen von zahllosen Bewässerungskanälen und ein paar Kleinstädten und Dörfern, die bis zum Horizont reichen.

Es ist die fruchtbarste Region Nordafrikas und der Brotkorb Ägyptens. Über 60 Millionen Menschen leben über das Delta verteilt. Auf einer etwas kleineren Fläche als Belgien sind es fünfmal so viele Einwohner wie dort.

Nach vier Stunden führt der Weg im Nordosten des Deltas dann nur noch über eine nicht asphaltierte Piste. Es ist eine vernachlässigte Gegend. Hierher verirren sich keine Touristen und keine Investoren. Schließlich geht es noch über eine Brücke ohne Geländer, die über eine einen kleinen Bewässerungskanal führt, dann erreicht man das Dorf, das meinen Familiennamen trägt, Ezbat El-Gawhary, das Dorf der El-Gawharys.

Meine dortigen Verwandten, zumindest die dortigen Familien-Oberhäupter, die am Dorfeingang auf uns warten, kenne ich nur von Hochzeiten und Beerdigungen in der Familie, deren größter Teil heute in Alexandria und Kairo lebt. Ich selbst war vor 20 Jahren das letzte Mal hier.

Unser Dorf ist kein außergewöhnlicher Ort, über den es Spektakuläres zu berichten gibt. Aber es ist ein Ort wie tausend andere in Ägypten, typisch für eine Lebensweise von Millionen Menschen in unmittelbarer Nachbarschaft zu Europa. Zwei Dutzend Häuser, eingebettet zwischen Kartoffel- und Süßkartoffelfeldern, dazwischen der Klee für die Tiere. Auf den Dächern kleben die für das ägyptische Landleben so typischen Taubenschläge. Unter auf der Straße watschelt eine Gruppe Enten.

Es begann in den 1930er Jahren

In den 1930er Jahren bestand das nördliche Delta noch aus Brachland, das erst durch Bewässerungskanäle fruchtbar gemacht werden musste. Damals hat mein Großvater das Land gekauft. Ein Mann, den ich nur streng dreinblickend mit der damals modischen Fez-Kopfbedeckung von einem Schwarz-Weiß-Foto kenne. Er selbst ist nie dort hingezogen. Großvater blieb als Englischlehrer in der Provinzhauptstadt Mansoura. Das Land verpachtete er an zwei seiner Brüder und seine Schwester. Heute besteht ein großer Teil des Dorfes also aus zwei mit mir verwandten Clans. Die Nachkommen meiner Großonkel tragen wie wir den Namen El-Gawhary. Und dann ist da noch der Familienzweig meiner Großtante, sie haben den Namen Abu Eisch. Um es kurz zu machen: das halbe Dorf besteht aus meinen Onkeln, Tanten, Cousins und Cousinen zweiten Grades und deren Kindern .

منزل الحاج منصور علي السيد - panoramio.jpg

Es geht noch ländlich zu in dem Dorf. Kurz nach der Begrüßung muss Taha El-Gawhary, mein Cousin zweiten Grades, wieder auf das Feld zur Arbeit. Er geht in den Stall und spannt ein Maultier an einen zweirädrigen Karren. „Die Landwirtschaft, das ist unserer Leben. Ich habe von meinem Vater und Großvater gelernt, den Boden zu bearbeiten. Bauer zu sein, das ist das Einzige, was ich gelernt habe“, erzählt er, nachdem wir mit dem Karren auf sein Feld gefahren sind und er eine Stunde lang mit einer Sense Klee für seine Tiere gemäht hat – alles in mühevoller Handarbeit und mit einer Sense, die so kurz ist, dass er seinen Rücken tief über das Grün beugen muss.

Im Zentrum des Dorfes befindet sich ein Wasserrad. Das rostbraune mannshohe Gerät mit seinen eisernen Schöpfkellen ist das Herzstück des Bewässerungssystems, so wie im ganzen Delta, ohne das dort nichts wächst. Früher wurde es von Wasserbüffeln bewegt, die im Kreis trotteten. Heute wird es von einem ziemlich alten Dieselmotor angetrieben. Um den anzuwerfen, gibt es eigens einen Mann, der nach einem Anruf wenige Minuten später mit einem Eselskarren, auf dem sich ein kleiner Dieseltank befindet, angeritten kommt.

Er schreitet ein paar Mal um den Motor, dann zündet er einen Docht an und steckt ihn in eine kleine Öffnung des Motors. Der ist so alt, dass er noch keine Glühkerze besitzt. Deshalb muss er auf diese Weise langsam vorgeglüht werden, bevor er von Hand angekurbelt wird. Erst dann setzt sich der Motor langsam in Bewegung und das Rad beginnt damit, das Wasser von einem größeren Kanal in einen kleineren zu schöpfen, der auf die Felder hinausführt.

Im Koran heißt es: „Und wir machten aus dem Wasser alles Lebendige.“ Wenn man zusieht, wie das Wasser langsam in Richtung der Felder strömt, dann ist das tatsächlich ein philosophischer Moment, der das Gefühl auslöst, dass hier das Leben seinen Anfang nimmt. Hier entstand vor 7.000 Jahren das erste Staatswesen der Menschheit, weil man nur gemeinsam das Bewässerungssystem und die Verteilung des kostbaren Wassers organisieren konnte.

Bis heute ist die Wasserverteilung vom Ministerium in Kairo in allen Provinzen bis hin zum kleinsten Dorf und dem kleinsten Bewässerungsrinnsal geregelt. Schahat Abul Eisch, ein anderer meiner Cousins, ist im Dorf für die gerechte Verteilung des Wassers zuständig. Seit ein paar Jahren aber kommt vom Hauptkanal immer weniger Wasser, erzählt er. Gründe dafür sind das Bevölkerungswachstum, der Klimawandel und ein gigantisches Staudammprojekt am Oberlauf des Nils in Äthiopien.

„Die zuständigen Beamten in der Provinzhauptstadt Mansoura sagen, dass es einfach nicht mehr Wasser zum Verteilen gibt. Ihr seid auf euch allein gestellt“, erzählt Schahat. Die einzige Lösung besteht darin, das für die Landwirtschaft genutzte Drainagewasser erneut zur Bewässerung zu nutzen, mitsamt der Pestizide und der Chemie darin. „Wir sprechen viel über dieses Thema untereinander, aber wir sind keine Entscheidungsträger. Unsere Stimmen dringen nicht nach oben“, moniert mein Cousin.

Es scheint ein in sich geschlossenes System zu sein, das Dorf und die benachbarten Felder. Doch das stimmt nicht. Ein Teil der Produkte wird sogar exportiert. „Wenn wir Süßkartoffeln anbauen, haben wir eine bessere Marke für den Export und eine mindere Sorte für den lokalen Markt“, beschreibt der Bauer Taha. Wohin die Kartoffeln gehen, das weiß er nicht. Selbst dieses entlegene Dorf im Nildelta ist in den globalen Markt eingebunden. „Auch bei uns im Dorf sind neue Zeiten angebrochen. Bevor wir aussähen, kommt der Händler und bestellt die Ernte, die dann exportiert wird. Die muss dann bestimmten Anforderungen entsprechen“, führt Schahat aus.

Die ältesten zwei Häuser im Dorf sind zweigeschossig. Vor 85 Jahren lebten nur meine beiden Großonkel und die Großtante mit ihren Familien im Dorf – gerade einmal ein gutes Dutzend Menschen. Heute gibt es mehrere Dutzend zum Teil dreigeschossige Häuser. Wie viele Menschen im Dorf leben, das weiß niemand so genau. Keiner hat sich die Mühe gemacht, sie zu zählen, aber sicherlich sind es ein paar hundert.

Insofern ist Ezbat El-Gawhary auch ein Sinnbild für das Bevölkerungswachstum im Rest des Landes. Jedes Jahr gibt es eineinhalb Millionen mehr Ägypter. Immer mehr kostbare landwirtschaftliche Flächen werden zu Bauland, auch weil die Ansprüche gewachsen sind. „Als unsere Eltern geheiratet haben, sind sie noch in ein einzelnes Zimmer gezogen. Wenn das Haus vier Zimmer hatte, lebten dort also vier verheiratete Paare“, erklärt Schahat. „Heute wird erwartet, dass du nach der Hochzeit in ein eigenes Haus ziehst“, fasst er die Entwicklung zusammen.

Karim-el-gawhary-2012-roemerberggespraeche-ffm-101.jpg

Immer weniger fruchtbares Ackerland – immer mehr Menschen mit immer höheren Ansprüchen – eine Rechnung, die nicht aufgehen kann. Das ist der Grund, warum mein Cousin Eid ein Visum für Saudi-Arabien beantragt hat, um dort zu arbeiten und ein Auskommen zu finden. In einem Monat soll es losgehen. Andere Verwandte arbeiten bereits dort. Migration ist seit Jahrzehnten ein integraler Teil des Dorflebens.

Theoretisch müsste der Boden nach der Tradition und dem Gesetz der Scharia immer weiter unter den Kindern und Kindeskindern aufgeteilt werden, bis die Parzellen so klein wären, dass sie niemanden mehr ernähren können. „Mein Vater müsste das Land, das ihn ernährt hat, seinen fünf Söhnen vererben. Heute kann mein Bruder Taha davon leben“, sagt Eid. Daher haben er und vier weitere Brüder beschlossen, in Saudi-Arabien zu arbeiten. Taha hilft Eid bei der Finanzierung seiner Reise nach Saudi-Arabien.

Quelle       :          TAZ         >>>>>           weiterlesen

—————————————————————–

Grafikquellen       :

Oben      —        Damietta-Nilarm in el-Manṣūra am Abend

—————————

2.) von Oben      —      S A H T O O T

w:en:Creative Commons
attribution
This file is licensed under the Creative Commons Attribution 3.0 Unported license.
Attribution: S A H T O O T

—————————–

Unten        —        Karim El-Gawhary, 2012 bei den Roemerberggespraechen in Ffm.

Kommentar schreiben

XHTML: Sie können diese Tags benutzen: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>