Ein Blick in die Schweiz
Erstellt von Redaktion am Montag 14. Oktober 2019
Der Wahlkampf zeigt ungeschminkt Schwächen unserer Demokratie
Von den Parteien getrieben – die eigen Leute betrügen.
Quelle : INFOsperber CH.
Von Urs P. Gasche — Sparer werden enteignet, Grossbanken gehätschelt, nächste Finanzkrise wird hingenommen! Im Wahlkampf sagen Parteien nichts dazu.
Viele halten einen Konzernchef für glaubwürdiger als einen Politiker oder einen Journalisten. Deshalb sei hier Oliver Bäte zitiert. Der Chef des Versicherungskonzerns Allianz (Umsatz 130 Milliarden Euro) erklärte am 25. Juli 2019 in der NZZ:
«Die Preise [Zinsen] für jene, die viele Schulden haben, werden künstlich niedrig gehalten. Und das Geld wird den Sparern weggenommen. Eigentlich eine Enteignung. Dann wird noch zwischen Reich und Arm umverteilt.»
Und dies bereits seit etlichen Jahren. Die Politik schaut tatenlos zu. Selbst jetzt im Wahlkampf um Parlamentssitze sind die Enteignung der Sparer und Rentner sowie die massive Begünstigung der Immobilienbesitzenden und Aktionäre und die drohende nächste grosse Finanzkrise kein Thema.
Es scheint breiter Konsens darüber zu herrschen, dass die Schweiz der internationalen Finanzpolitik ausgeliefert und handlungsunfähig ist. Selbst die SVP, welche die Unabhängigkeit und Souveränität der Schweiz auf ihre Fahnen geschrieben hat, lässt die vielen Sparer und Verlierer im Stich, darunter viele ihrer Wählerinnen und Wähler. Sie warnt diese nicht einmal davor, dass ihre Spargelder bei den Banken im Krisenfall deutlich weniger gut geschützt sind als in der geschmähten EU.
Mit dem Wegschauen möchten die grossen Parteien auch eine öffentliche Diskussion über zunehmende Defizite unserer Demokratie vermeiden. Man redet ungern darüber, dass unsere Entscheidungsfreiheit in lebenswichtigen Fragen teilweise oder sogar ganz ausgehebelt wurde. Das geht von der Neutralitätspolitik (Zwangsteilnahme an einseitigen US-Sanktionen) über die Finanzpolitik, die Steuerwettbewerbspolitik bis zur Deklaration von Lebensmitteln, Gesundheits- und Umweltvorgaben («Verstoss gegen Freihandelsabkommen»).
Vom möglichen Handlungsspielraum redet niemand
Die Souveränitätsverluste müsste die Schweiz nicht überall schulterzuckend hinnehmen. Stolzes und mutiges Handeln könnte allerdings einen dämpfenden Einfluss auf das Wirtschaftswachstum haben oder – falls beispielsweise der Franken stärker wird – die Exportwirtschaft herausfordern. Und diese beiden heiligen Kühe haben gegenüber mehr Souveränität und politischen Wahlmöglichkeiten bekanntlich fast immer Vorrang, ohne dass diese Prioritätensetzung demokratisch beschlossen worden wäre.
Beschränken wir uns hier auf den Finanzsektor und zählen einige strukturelle und durchaus machbare Reformen auf, welche die Parteien zur Zeit lieber tabuisieren:
- Keine Grossbank und kein Konzern darf «too big to fail» sein: Die grossen Risiken einer nächsten Pleite dürfen nicht mehr die Steuerzahlenden tragen. Bis das ungewichtete Eigenkapital von Grossbanken 25 Prozent der Bilanzsumme (inklusive Staatsanleihen) erreicht, sollen sie keine Dividenden auszahlen dürfen. Denn solange Banken ein Zehn- oder Zwanzigfaches an Krediten schaffen können, als sie Geld haben, bleibt das Bankensystem instabil und eine Gefahr für die Realwirtschaft.
- Für Privateinlagen von 100’000 CHF pro Bank ist wie in der EU eine unbegrenzte staatliche Garantie zu gewähren. Eine mögliche Alternative wäre die Vollgeldinitiative gewesen.
- Unkontrollierte Schattenbanken wie Hedge Funds sind strikte zu regulieren, damit Banken die Eigenkapital-Vorschriften nicht umgehen können: Über Schattenbanken laufen rund ein Viertel aller weltweiten Finanztransaktionen. Die Verschiebung von Risiken in die Schattenbanken sei «die grösste Gefahr für die Finanzstabilität», warnte Goldman-Sachs-Vizepräsident Gary Cohn.
- Kreditausfallversicherungen, sogenannte CDS, sind nur noch zuzulassen, wenn tatsächlich ein vorhandener Kredit versichert wird. Reine Wettgeschäfte, welche die grosse Mehrheit des CDS-Handels ausmachen, sind zu verbieten.
- Das risikoreiche Investmentbanking ist in unabhängige juristische Personen zu verlagern. Der Eigenhandel, also Börsenspekulationen der Banken auf eigene Rechnung, ist zu verbieten.
- Keine Förderung des Schuldenmachens: Unternehmen und Private sollen Schuldzinsen bei den Steuern nicht mehr in Abzug bringen können, wie es in Schweden schon seit Ende der 80er Jahre der Fall ist. Dann natürlich auch keine Besteuerung des Eigenmietwerts mehr.
- Eine radikale Steuerreform als einfachste und wirkungsvollste Kursänderung. Die Mehrwert- und Bundessteuer sollen abgeschafft und durch eine Mikrosteuer auf allen elektronischen Zahlungen ersetzt werden. Eine entsprechende Volksinitiative ist in Vorbereitung. Sie verlangt das schrittweise Einführen einer Mikrosteuer von maximal 5 Promille auf allen elektronischen Geldtransaktionen. Mit den Einnahmen kann man zuerst die viel höhere Mehrwertsteuer ersetzen und dann auch die Bundessteuer und Stempelsteuer. Auch kommende Lücken in der AHV wären damit zu finanzieren. Eine Mikrosteuer auf allen Geldtransaktionen hat folgende Vorteile:• Das unproduktive und risikobehaftete Wettcasino mit dem Hochfrequenzhandel verlagert sich weg von der Schweiz ins Ausland.• Die Realwirtschaft wird finanziell und administrativ stark entlastet, weil tiefere Steuern und das einfache Erfassen den Unternehmen in der Schweiz einen erheblichen Wettbewerbsvorteil verschaffen.• Der Staat wird entlastet: Steuerbetrug, Steuervermeidungs-Tricks und Steuerkriminalität werden praktisch verunmöglicht.• Die automatische Mikrosteuer verschiebt die Steuerlast auf viel breitere Schultern: Es würden in der Schweiz nicht mehr ein Bruttoinlandprodukt von 600 Milliarden CHF besteuert, sondern die rund 50’000 Milliarden des Zahlungsverkehrs mikrobesteuert. Dies unter der Annahme, dass ein Teil der spekulativen Casino-Finanzgeschäfte inklusive des Hochfrequenzhandels in gleicher Höhe ins Ausland «fliehen» wird.• Wer mehr Geld ausgibt und verschiebt, zahlt mehr Steuern. Die Zeit der Milliardäre und Millionäre, die keine oder kaum Steuern zahlen, wäre vorbei.
Gegen kurzfristige Interessen der Finanzindustrie
Die meisten dieser Massnahmen könnte die Schweiz im Alleingang beschliessen – etliche würden der Schweizer Volkswirtschaft sogar Wettbewerbsvorteile bringen. Doch scheinen sie «politisch nicht machbar». Es finden sich dafür keine politischen Mehrheiten, weil der Einfluss der Finanzindustrie und der Konzerne zu gross ist. Diese haben nur die kurzfristige Gewinnmaximierung im Fokus, welche für die Boni der CEOs bestimmend ist. Nach durchschnittlich höchstens fünf Jahren machen sich CEOs und Topmanager wieder aus dem Staub und setzen auf ein anderes Unternehmen. Hedgefonds und andere Grossspekulanten setzen als Grossaktionäre ohnehin auf rasche Gewinnmitnahmen. Auf der Strecke bleibt eine verantwortliche Konzernpolitik, die auf langfristige Stabilität des Finanzsektors setzt und vom gigantischen Wettcasino die Finger lässt.
Hier kommt das Stimmvieh gelaufen
Bereits am 24. Oktober 2016 warf ich auf Infosperber die Frage auf, ob die traditionellen demokratischen Institutionen noch in der Lage sind, nötige Weichenstellungen rechtzeitig in die Wege zu leiten: «Die Geschichte lehrt, dass grössere Kurskorrekturen meistens aus Krisen hervorgehen. Allerdings sollten sich weitsichtige Ökonomen und Politiker schon heute damit befassen, wie eine Zukunft ohne Schuldenkrisen, ohne ökologische und soziale Ausbeutung, ohne eine Machtanballung bei internationalen Konzernen sowie, last but not least, ohne Wachstumszwang gestaltet werden kann.»
Eine grosse Schwäche unserer Demokratie zeigt sich darin, dass Politiker und Medien den zunehmend eingeengten Handlungsspielraum unserer Demokratie nicht zu einem Dauerthema des öffentlichen Diskurses machen. Es ginge doch darum, die demokratischen Institutionen und Spielregeln an die neuen Machtverthältnisse und an die Herausforderungen unserer Zeit anzupassen.
George A. Papandreou, früher griechischer Ministerpräsident und heute Vorsitzender der Sozialistischen Internationale, eines Zusammenschlusses sozialdemokratischer Parteien, bringt eine der Herausforderungen auf den Punkt (NYT, 8.10.2019): «Konzerne der Finanz-, Pharma-, Agrar- und Techindustrien werden nicht mehr von Gesetzen eines einzelnen Staates reguliert – sie leben in einer separaten globalen Welt, deren Regeln ihren Interessen dient.»
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Infosperber-DOSSIER:
Das Finanzcasino bedroht die Weltwirtschaft
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Keine
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Grafikquellen :
Oben — Karikatur: Angela Merkel und Franz Müntefering als Marionetten von Peter Hartz…
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Unten — 1886 in den Fliegenden Blättern erschienene, von Adolf Oberländer angefertigte politische Karikatur des Stimmviehs…