Egoismus für alle
Erstellt von Redaktion am Dienstag 2. Oktober 2018
Kommentar Globalisiertes Reisen
Von Edith Kresta
Fast jeder kann sich mittlerweile Reisen leisten, die Tourismusindustrie wächst. Doch die Demokratie bleibt auf der Strecke.
Jahrelang hat das Ehepaar in sein bescheidenes Wochenendhaus investiert, gebaut, gespart. Dann haben sie es verkauft und sich mit dem Erlös einen Traum erfüllt: eine Kreuzfahrt.
Ein Traum, der heute für immer mehr Menschen bezahlbar geworden ist. Man nennt das die „Demokratisierung des Reisens“. Ein Luxus, der früher nur wenigen Privilegierten und Reichen vorbehalten war, ist hierzulande in einer bezahlbaren Wirklichkeit für viele angekommen, auch wenn die Distinktionsspiele nach Preis und Ansehen weiter existieren.
Im Sinne von Verteilungsgerechtigkeit ist dies tatsächlich Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand. Im Wesentlichen produziert von Reiseveranstaltern, die den Reisetraum als Stückwerk produzieren, als ein unkompliziertes, buchbares Angebot mit vielen Facetten, den sogenannten Reisemodulen. Die Kreuzfahrt inklusive Kapitänsdinner, die Bildungsreise, den Strandurlaub, die Trekkingtour.
Weltweit werden die Strände ausgebaut mit Bettenburgen und luxuriösen All-inclusive-Anlagen. Dazu gibt es Spezialangebote für alle Geschmäcker – für den Sextouristen genauso wie für den Himalajabergsteiger. Niemand wurde in den vergangenen Jahren ausgegrenzt. Keiner vergessen. Jeder findet seinen Reisetraum, vielfältig aufbereitet.
Sind TUI und Co also die großen Demokratisierer? Und die Billigairlines die Wohltäter der Neuzeit, die endlich unendlich vielen den Traum vom Wochenende in Lissabon oder New York ermöglichen, wie Michael O’Leary, Chef der irischen Billigfluggesellschaft Ryanair, stets in Interviews betont? Sind sie demokratisierende Beglücker – oder intelligente Geldmaschinen? Wahrscheinlich beides.
Die weltweite Expansion
Tourismus ist eine Erfolgsstory weltweit – und eine Industrie wie andere auch. Der Tourismus hat das Angebot unendlich vergrößert und spezifiziert, indem er die Menschen zur Ware ihres Geschmacks und ihres Geldbeutels brachte. Bei bodenständigen Menschen, die ans Verreisen nie auch nur dachten, wurden Bedürfnisse geweckt. Aus den Mündern von Veranstaltern und Interessenvertretern der Industrie wurde Demokratisierung zum Rechtfertigungsargument für die weltweite Expansion – und vor allem zu einem Zauberwort, alles zu fordern und auf den Weg zu bringen, was Rendite versprach.
Wer sich etwa gegen exzessiven Straßenbau in den Alpen aussprach, wurde schnell als „Bremser“ abgestempelt oder, noch schlimmer, als Diskriminierer, der Rollstuhlfahrern den Zugang zu den schönsten Alpengipfeln verweigere. Die Rede von der Demokratisierung relativierte auch stets den Ausverkauf von Land und Leuten. Inzwischen ist Tourismus die erfolgreichste Industriesparte der Welt. Sein Volumen wird auf rund 7.000 Milliarden Euro im Jahr geschätzt. Das sind 10 Prozent der Weltwirtschaftsleistung.
Die Zukunftsprognose des internationalen Tourismus: glänzend! Die touristische Spirale dreht sich weiter – und vielleicht schneller denn je, denn längst sind neue Akteure auf den Plan getreten. Und neue Interessen.
Die Neuen, das sind etwa Billigairlines, die kaum mehr als ein Taschengeld fordern, um Freizeitler umstandslos für ein Wochenende zu einer angesagten Partymeile nach Barcelona oder Berlin zu bringen oder mal schnell nach Amsterdam zu einem Kunstevent oder an einen der Strände von Mallorca.
Noch vor wenigen Jahren hätte es niemand für möglich gehalten, dass selbst die überdimensionierten Infrastrukturen von uralten Touristenhits wie Mallorca oder Venedig nun unter dem neuen Ansturm zu kollabieren drohen. Dass in Großstädten wie Amsterdam Anwohner wegen der Überfülle an Menschen verzweifeln, die ihre Stadt lieben, die feiern, lachen und Spaß haben wollen. Was hier passiert ist, war in diesem Jahr Thema aller touristischen Fachleute und der Medien: Overtourism.
Die touristische Logik
Damit sind die weltweiten Hotspots und It-Places des Städtetourismus gemeint, die vor allem deshalb entstanden sind, weil sie über Renommee verfügen und so preiswert und bequem zu erreichen sind. Im Hotspot bündeln sich die touristischen Ströme. Hier finden alle zusammen. Schnäppchenjäger genauso wie die Renditehaie der Tourismusbranche, Partygänger wie Luxusreisende. Der Hotspot ist Kulminationspunkt touristischer Aktivitäten.
Und wenn es am It-Place dauerhaft zu voll wird, wenn beispielsweise die Alhambra in Granada überlaufen ist und für einen bestimmten Tag keine Tickets mehr verfügbar sind, muss man daneben eben ein Einkaufszentrum bauen, „um die Leute so lange anderweitig zu beschäftigen“, so der bahnbrechende Vorschlag des neuen Generalsekretärs der Welttourismusorganisation (UNWTO), Zurab Pololikashvili. Das ist touristische Logik.
Was das noch mit Demokratisierung zu tun hat? Eigentlich nichts. Vielmehr ist dieser neue, zeit- und raumfressende Tourismus die Folge der rasanten Globalisierung und noch rasanteren Digitalisierung. Was die touristische Welt jetzt auf dem Globus surfen lässt, gehört zu einer neoliberalen Postmoderne, der sich vor allem die neuen, kosmopolitischen Mittelschichten verschrieben haben. Weltweit. Ob in China oder in Deutschland.
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Grafikquellen :
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