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Die Welt aus der Sicht einer niedrig gelegenen Insel

Erstellt von Redaktion am Freitag 8. Januar 2016

Die Folgen des Klimawandels für Isle de Jean Charles, Louisiana

von Elizabeth Rush

Ende August verfärbt sich der Abendhimmel im Süden Louisianas oft violettblau. Heute zieht am Horizont ein Gewitter auf. Ein paar Meeräschen springen aus dem Wasser. Beim Wiedereintauchen machen die zwanzig Zentimeter langen zappelnden Leiber ein plätscherndes Geräusch: doip!, doip!, doip! Jake Billiot dreht bei, um seinen Garnelenkutter „Sitting Bull“ am Steg vor dem Anlegeplatz von Pointe-Aux-Chenes zu vertäuen. Pointe-Aux-Chenes ist das südlichste Ende eine langen Landzunge und nur durch eine einzige, zunehmend gefährdete Straße mit der gewaltigen Landmasse Nordamerikas verbunden. Auf der Fahrt zum Ende des Highway 665 weitet sich der Blick mehr und mehr über das Wasser, bis schließlich das Land rundherum aufhört und man ganz vom Meer umgeben ist.

Jenseits von Billiots Kahn gibt es nur noch zwei Farben – die fast schwarzen Bayous, die die schwer zugängliche Sumpflandschaft des Mississippi-Deltas prägen, und das Grün des Schlickgrases, das sich hier wie anderswo auch invasiv ausbreitet. Diese schwarz-grüne Unermesslichkeit war einst ein vielgestaltiges Mündungsmarschland, wo im Frühling die Garnelen laichten und die Schwarzkappen-Waldsänger auf ihrem Zug nach Südamerika Rast machten. Doch im Lauf der letzten fünfzig Jahre sind etwa 90 Prozent der drei Kilometer nördlich von Pointe-Aux-Chenes gelegenen Isle de Jean Charles und der umliegenden Feuchtgebiete verschwunden. Luftaufnahmen zeigen den dramatischen Unterschied zwischen damals und heute: Was früher grün war, ist jetzt blau. Dieses Gebiet, das einst zu den ausgedehntesten und fruchtbarsten Marschgebieten der Welt zählte, verliert in atemberaubender Geschwindigkeit Land – jede Stunde geht eine Fläche von der Größe eines Fußballfelds verloren.

Der Bayou von Louisiana geht unter – der Anstieg des Meeresspiegels, die Küstenerosion, das Absinken des Bodens und über 15 000 Kilometer neue, von Ölkonzernen ausgehobene Kanäle tragen zu seinem Verschwinden bei, und mit ihm stirbt eine ganze Lebensweise. Billiot ist 70 Jahre alt. Er ist im Bayou geboren und aufgewachsen. „Ich fische hier seit 55 Jahren“, erzählt er. „Anfangs habe ich im Sommer Krebse und Garnelen gefangen und im Winter auf dem Land Fallen aufgestellt. Es gab immer mehr als genug. Aber jetzt sind das Land und die Bisamratten verschwunden, und ich muss manchmal stundenlang durch die Gegend tuckern, bis mir irgendwas ins Netz geht.“ Seit einem halben Jahrhundert hat Louisianas Garnelenindustrie noch nie so schlechte Jahre gehabt wie 2010 und 2011.

Billiot, der wie die meisten Mitglieder der Gemeinde Terrebonne indianische und französische Vorfahren hat, ist ratlos und weiß nicht mehr, was er tun soll. „Versuchen wir ‚de Baya‘ weiter draußen“, sagt er, während er das Boot wendet. Hier unten sprechen die Leute das aspirierte „th“ wie ein hartes „d“ aus und das „Bayou“ wird zu einem breiten „Baya“. Den Prognosen zufolge wird sich Louisianas Baya in den kommenden Jahrzehnten noch weiter zur See hin „öffnen“, und gegen Ende des Jahrhunderts wird außer den Deichen alles unter Wasser stehen.

Das Abschmelzen des Grönlandeises hat in den letzten 15 Jahren zu einem deutlichen Anstieg des Meeresspiegels geführt. Doch das Mississippi-Delta verliert schon seit den 1930er Jahren Land ans Meer, als Ingenieure der US-Armee den Fluss mit Dämmen gebändigt haben.

Der mächtige Mississippi, der drittlängste Fluss der Welt, entwässert sei 10 000 Jahren ein riesiges Gebiet, das von Wyoming bis nach Pennsylvania und von der kanadischen Grenze bis zum Golf von Mexiko reicht. Er hat der Küste Louisianas ihre Gestalt gegeben, indem er aus den fernsten Gegenden des Kontinents Geschiebe und Schwemmsand herantrug und an seiner Mündung ins Meer spülte.

Die indigenen, präkolumbianischen Gesellschaften im gesamten Mississippi-Tal wussten, dass ein gesunder Fluss Phasen der Überflutung und der Trockenheit durchläuft und dass dieser Kreislauf dem Strom und den Zivilisationen an seinen Gestaden ihre Gestalt verlieh. Die amerikanischen Ureinwohner errichteten ihre Dörfer nicht am Flussufer, sondern landeinwärts, um dem launischen Gewässer nicht zu nahe zu kommen. Ihre Siedlungen waren ohnehin meist Zeltstädte, die verlegt werden konnten, wenn das Wasser über die Ufer trat.

Quelle: le monde diplomatique

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Fotoquelle: Wikipedia – Urheber Jonathan Palombo –/– Quelle Maldives –/– CC BY 2.0

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