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RENTENANGST

Die Stunde der Hilfssheriffs

Erstellt von Redaktion am Dienstag 2. Juni 2020

HH-Ottensen schien der perfekte Kiez, um autofreies Stadtleben zu erproben. Doch es kam anders

Ottenser Hauptstraße.jpg

Hauptstraße Hamburg-Ottensen

Von Annette Kammerer

Dass es so schlimm kommen würde, hatte keiner geahnt. Oder doch? Jochen Faiz ist ein ruhiger, zurückhaltender Mann mit Brille, Hemd und immer gleich gebundenem Schal um den Hals. Seine kleine Reinigung mit dem raketenroten Schriftzug „Comet – Textilreinigung“ wirkt wie aus der Zeit gefallen und reiht sich doch ungewollt stilsicher in die bunten Geschäfte des Hamburger Szenekiezes Ottensen ein. Jochen Faiz kam vor über dreißig Jahren aus Bangladesch hierher, hat sich vom Angestellten zum Inhaber der kleinen Wäscherei hochgearbeitet.

30 Jahre lang lief das Geschäft gut bei ihm, der eigentlich kurz vor der Rente steht. Die Menschen schätzen ihn. Hinter der Ladentheke hängen, sorgfältig von Folien umhüllt, Hunderte von bunten Kleiderstücken, die ruckelnd hin- und herfahren. Alte Damen bringen schwere Gardinen zu ihm, Theater feine Kostüme oder Anwohner zerknitterte Hemden. Faiz kann alles reinigen, zum Saubermannpreis. Viele seiner Kunden kommen wieder, immer wieder.

Bis Faiz im September 2019 das erste Schild aufstellen musste: Wer seine Wäsche mit dem Auto anliefere, könne das nur noch zwischen 8 und 11 Uhr am Morgen tun, teilte er höflich mit. Ein halbes Jahr später, Anfang Februar 2020, dann ein neuer Text, wieder freundlich, dafür in dreifacher Ausführung. Ein Schild hüfthoch im Schaufenster, eines an der Preisliste, eines neben der Kasse. Darauf der immer gleiche Satz, den niemand übersehen soll: „Wir waren nicht an der Klage beteiligt.“ – Das Wort „nicht“ ist fett gedruckt und zwei Mal unterstrichen, raketen-rot.

Es hätte alles so schön sein können. So schön wie an jenem Samstag im September 2019, als grüner Rollrasen über das Kopfsteinpflaster der Ottenser Hauptstraße gerollt wurde. Als mitten auf der Straße Tischtennisplatten standen, wo sich bis zum Vortag noch Fahrräder zwischen Autos gedrängt hatten. Als Anwohner auf dem Rasen Yoga machten, wo sonst Autos fuhren, und Beete angelegt wurden, wo sich normalerweise dicht an dicht Parkplätze reihten. Kein ruhendes Blech mehr, sprach die Bürgerschaftsabgeordnete der Grünen, Eva Botzenhard, fröhlich in eine Kamera. Keine nervigen Autos mehr, freute sich eine junge Frau mit Schaufel in der Hand.

Hamburg-Ottensen wurde an jenem Septembertag autofrei auf Probe – für 12 Stunden jeden Tag, zwischen 11 Uhr am Morgen und 11 Uhr am Abend in vier zusammenhängenden Straßenzügen. Zwar durften keine Autos mehr an den Straßenrändern parken; Taxen, Anwohnern mit eigenem Stellplatz und solchen mit einem Schwerbehindertenausweis aber war die Durchfahrt gestattet. Ausnahmen erhielten auch die Zulieferer der drei Apotheken und der Transporter der Blumenverkäuferin.

Sechs Monate lang, bis Februar 2020, wollte der Bezirk hier die Verkehrswende proben. Dafür wurde eine Internetseite in Senfgelb und Pink aufgesetzt, passende Holzbänke und Schilder aufgestellt, die Straße bemalt. Alles formvollendet im Corporate Design. Begleitet von Wissenschaftlern und Fragebögen. Das perfekte Projekt in einem perfekten Stadtteil. Wo kann die Verkehrswende funktionieren, wenn nicht hier?

44 Prozent für die Grünen

Bei der Wahl der Bezirksversammlung im Mai 2019 stimmten 43,9 Prozent für die Grünen; weniger als ein Drittel der Anwohner besitzt ein Auto. Die meisten sind eh schon mit dem Rad unterwegs. Und so waren an jenem Septembertag alle Anwesenden ganz beseelt vom autofreien Ottensen: Die Anwohner, die Autos am liebsten gleich aus der ganzen Stadt verbannt hätten, und die Politiker, die mächtig stolz waren auf ihr Vorzeigeprojekt, das rekordverdächtig schnell Wirklichkeit wurde. Die Grüne Eva Botzenhard ließ sich bei der Eröffnung zu tollkühneren Träumen hinreißen: Das Projekt sei erst der Anfang, sagte sie. Der Anfang von etwas ganz Großem. „Autofreie Städte“, nickte sie. „Auf den Weg haben wir uns längst gemacht.“ Doch das Projekt wird scheitern. Schon bevor es an den Start geht, haben sich zwei Lager gebildet.

Ottenser Hauptstraße, Hamburg-Altona .jpg

Im August 2019, kurz vor Beginn der autoarmen Zeit, trafen sich die Gegner zum ersten Mal in der alten Druckerei in Ottensen. Sie sind viele – und von Anfang an gut organisiert. So fütterten sie hernach nicht nur die sozialen Netzwerke, sondern gekonnt auch bundesweit die Medien. Die Gegner sind keine „Autonarren“ und werden nie müde, das zu betonen. Denn in Wirklichkeit wollen auch sie gerne weniger Autos vor ihrer Tür. Nur eben nicht so. Das Verkehrsprojekt sei: zu radikal, zu unausgewogen, zu chaotisch. Warum wurde das Parken nicht zuerst nur Anwohnern erlaubt? Welche Lösung gibt es für Rentner? Welche für die Gewerbetreibenden, die Angst vor Umsatzeinbußen haben? Die Gegner haben viele Fragen, und die Politik zu wenig Antworten.

Da ist die Rentnerin Gisela Alberti: schlecht zu Fuß. Sie hat, wie es im Projekt vorgesehen ist, ihr Auto schon seit Jahren in einem Parkhaus eingemietet. Bekommt jetzt aber keine Ausnahmegenehmigung, um mal kurz, wie sonst, vorfahren zu können. Da ist Jochen Faiz von der Reinigung, der vorrechnet, ein Fünftel seiner Kunden komme mit dem Auto, 20 Prozent des Umsatzes. Da sind die Apotheken, deren Zulieferer noch keine Ausnahmegenehmigung bekommen haben. Die Blumenhändlerin, die Fahrschule, der Copyshop. Jeden drückte das Verkehrsprojekt woanders. Die Wirklichkeit ist komplexer als die Politik. Und so schwankte an jenem Abend die Stimmung bei den Gegnern zwischen gereizt und ratlos, blieb aber stets kämpferisch. Man wolle sich Hilfe von Anwälten holen.

Quelle         :        Der Freitag            >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen        :

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