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die steile these

Erstellt von Redaktion am Sonntag 28. Juni 2020

Unser Leben war auch schon vor Corona ungesund

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Von Waltraud Schwab

Fortschritt zeigt sich genau genommen immer an der Gegenwart. Das mag jetzt überraschen, denn eigentlich sieht die Wahrnehmung doch so aus: Rückschritt = Vergangenheit, Stillstand = Gegenwart, Fortschritt = Zukunft. Und weil das Wort Fortschritt positiv besetzt ist und Vorstellungen wie Innovation, Beschleunigung, Globalisierung, Echtzeitverfügbarkeit, Wertsteigerung, Mobilität, Optimierung, Effi­zienz mitschwingen, ist klar, was die Zukunft eigentlich bringen soll.

Aber all das geschieht nicht in der Zukunft. Fortschritt kann  nur Fortschritt in der Gegenwart sein. Etwas ist schneller, effizienter, optimierter, innovativer, besser geworden, weil wir es als schneller, effizienter, optimierter, innovativer, besser erfahren. Erfahren können wir nur, weil es Gegenwart ist.

Wenn dem aber so ist, wie ich behaupte, dass Fortschritt Gegenwart ist, dann kann man sich in der Umkehrung auch die Frage stellen: Was ist das Fortschrittliche an dieser gegenwärtigen Coronazeit? Was weist über sie hinaus?

Da gibt es einiges. Unter anderem die Erfahrung: Radikaler Wandel im Alltag ist möglich. Dass es also nicht eines elenden Rumgeeieres bedürfen müsste, beispielsweise Klimaschutzziele einzuführen, sondern dass sie eingeführt werden können.

Jetzt.

Dass es keines Rumgeeieres bedürfen müsste, Flüchtlinge nach Deutschland zu holen, sondern dass sie geholt werden.

Jetzt.

Denn das haben nun alle ganz persönlich wie auch kollektiv erfahren, dass sofortiger Wandel möglich ist: nicht rumjetten, nicht konsumieren um des Konsumierens Willen, keine Schule, kein Sextourismus, kein Fluglärm. Geht doch.

All dies wurde bereits hinlänglich diskutiert. Und für viele mag das im Einzelnen ein Rückschritt sein. Das widerspricht indes nicht der These, dass Corona gezeigt hat, dass Wandel möglich ist – und das ist der Fortschritt.

Ein Fortschritt in Folge des radikalen Wandels ist auch, dass von der neuen Gegenwart aus zurückgeschaut werden kann auf das Leben davor. Und da ist sogar ein vermeintlicher Nachteil der Coronazeit plötzlich interessant. Der nämlich, dass sich viele Menschen im Lockdown, der als Auszeit, Entschleunigung, Ruhe und damit als Plattform für Regeneration betrachtet werden kann, plötzlich völlig energielos fühlten.

Zwei, drei Wochen mag Energielosigkeit normal sein, wenn man nicht krank ist. Aber die Mattigkeit, Lustlosigkeit, Langsamkeit geht auch bei vielen Gesunden nicht weg, selbst jetzt, wo wieder mehr möglich ist. Viele fühlen sich, als ob sich Mehltau auf das Leben gelegt habe, beschreibt der Soziologe Hartmut Rosa das Phänomen.

Aus der Corona-Gegenwart, in der es von hundert auf null ging, entsteht also die rückblickende Frage: Wie haben wir das vorher alles geschafft? Arbeit, Reproduktionsarbeit, Freizeit, Mobilsein, Erreichbarsein? Alles im Sinne der Fortschrittlichkeit.

Und für wen haben wir es gemacht? Für uns? Zwecks Selbstoptimierung, Selbstverwirklichung, Selbstbefriedigung?

Der Stillstand legt offen, dass viele Menschen mit großer Energie wahnsinnig viel getan haben. Plötzlich aber rausgerissen, wirke der verordnete Stillstand „wie kalter Entzug“, schreibt der Philosoph Alexander Grau in der Neuen Züricher Zeitung. „Die Droge Mobilität ist nicht mehr verfügbar.“

Weil den Menschen, so zurückgeworfen auf sich, ihre Energie verlustig geht, bringt der Soziologe Hartmut Rosa so etwas wie „soziale Energie“ ins Spiel. Erst durch die Mitmenschen und Anforderungen in unserem sozialen Umfeld und Alltag werden wir zu Höchstform angetrieben. Der Antrieb fällt im Lockdown weg.

Hartmut Rosa erscheine es so, sagt er in einem Interview in der Zeit, dass der weltweite Lockdown zeige, „auf welche Weise unsere hochmobile Gesellschaft energiegeladen war. Fast alle waren permanent unterwegs, beruflich, privat, im Urlaub. Der Energieumsatz unseres Weltverhältnisses war schon allein deshalb gigantisch.“ Und er führt weiter aus: „Wenn meine Beobachtung zutrifft, dass viele jetzt das Gefühl haben, durch die tendenzielle Isolation ihre Energie verloren zu haben, dann bestätigt das nur die Vermutung, dass die Quelle, welche die Bewegungsenergie der Moderne erzeugt, nicht in den Individuen liegt, sondern in den sozialen Wechselwirkungen zu suchen ist.“ Das ist eine geniale Beobachtung.

Quelle         :         TAZ         >>>>>         weiterlesen 

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Grafikquellen       :

Oben           —        Kanuten in der Markmannsgasse.   —      Köln

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