Die neue Protestwelle
Erstellt von Redaktion am Mittwoch 2. September 2020
Wer gehört zum Wir?
von Albrecht von Lucke
Vor jetzt fünf Jahren, am 5. September 2015, setzte in Ungarn mit dem Marsch der Tausenden auf der Autobahn Richtung Deutschland die große Fluchtbewegung aus Syrien und den Anrainerstaaten in die Bundesrepublik ein. Was innenpolitisch folgte, war der Aufstieg der AfD und der Absturz der Kanzlerin; aus „Mutti“ wurde die „Volksverräterin“. Heute ist Merkel wieder die mit Abstand beliebteste deutsche Politikerin, steht die Union wieder bei ihren Werten von vor der Krise, mit klarem Vorsprung vor der Konkurrenz. Und die AfD ist auf dem besten Wege, sich selbst zu zerlegen. Also alles wieder „in Ordnung“, alles wie vor der großen Flucht, dank Corona als dem großen gamechanger?
Keineswegs. Der Diskurs in Deutschland ist nachhaltig vergiftet, das haben die vergangenen Monate eindrucksvoll bewiesen, in denen wir erneut eine große Debatte über Gewalt von Migranten erlebten.
Drei spezifische Ausprägungen von Protest und Aufruhr prägten diesen heißen Sommer: die Hygienedemos „besorgter Bürger“, vulgo: Coronaleugner, gegen die Regierungspolitik,[1] die Antirassismusproteste nach der Ermordung von George Floyd in den USA und die diversen Ausschreitungen feiernder Jugendlicher gegen die Polizei.
Vor allem die spontanen Krawalle auf dem Stuttgarter Schlossplatz und auf dem Opernplatz in Frankfurt am Main wurden umgehend zu einem Problem der Migranten, ja sogar der Flüchtlinge erklärt. Dabei hatte selbst die Stuttgarter Polizei die dortige „Party- und Event-Szene“ für die Ausschreitungen verantwortlich gemacht. Offensichtlich hatte sich bei denen, die wegen Corona schon länger nicht mehr feiern konnten, der angestaute Frust auf die Obrigkeit entladen. Beobachter und Experten kamen zu dem Schluss, dass es sich bei den hauptsächlich männlichen Tätern, in der Regel Jugendliche oder junge Erwachsene, etwa um ein Drittel sogenannte Biodeutsche, ein Drittel Deutsche mit Migrationshintergrund und ein Drittel Geflüchtete gehandelt habe.[2]
Dennoch wurde die Debatte in Richtung der Flüchtlinge kanalisiert, insbesondere durch einen parteiübergreifenden offenen Brief der süddeutschen Bürgermeister Richard Arnold (Schorndorf), Matthias Klopfer (Schwäbisch Gmünd) und Boris Palmer (Tübingen).[3] Obwohl die Autoren darin zu Recht feststellen, dass „zweifelsohne […] die Mehrheit der Krawallbrüder in Stuttgart keine Geflüchteten waren“, richtete sich das Hauptaugenmerk ihrer Intervention fast ausschließlich auf die jungen Flüchtlinge.
Hier manifestiert sich ein fatales Erbe. Bereits 2018, und ausgerechnet nach den rechtsradikalen Ausschreitungen von Chemnitz, hatte Bundesinnenminister Horst Seehofer die Migration als die „Mutter aller Probleme“ bezeichnet. Eine ungeheure Aussage (genau wie Seehofers Unwort von der „Herrschaft des Unrechts“), weil sie Ursache und Wirkung radikal verkehrt. Nicht die Migration ist das ursächliche Problem, sondern es sind die Umstände, die – wie in Syrien – die Menschen zur Migration zwingen. Doch indem die Migration als solche angeprangert wird, werden faktisch sämtliche Migranten stigmatisiert und völlig undifferenziert zum Problem erklärt.
»Echte« oder »unechte« Deutsche?
Diese Abwertung wendet sich auch gegen die zweite an den Protesten beteiligte Gruppe, die sogenannten Deutschen mit Migrationshintergrund. Bereits die landläufige, inzwischen fast schon eingebürgerte Unterscheidung zwischen angeblichen „Biodeutschen“ und Deutschen mit Migrationshintergrund ist hoch gefährlich, da sie den Eindruck erweckt bzw. verfestigt, wir hätten es (immer noch) mit zwei Sorten von Deutschen zu tun – eben „biologisch echten“ (um nicht zu sagen „reinen“) und „unechten“ Deutschen, als Bürgern zweiter Klasse. Wie gefährlich eine derartige Deklassierung ist, sollte eigentlich bereits die Mordserie des NSU gezeigt haben, aber auch – für all jene, die diese bereits vergessen haben – die tödlichen Schüsse von Hanau im Februar dieses Jahres mit insgesamt zehn Opfern – außer der Mutter des Täters alles Menschen mit Migrationshintergrund, die eben gerade deshalb zu Mordopfern wurden.
Das aber verweist auf ein fundamentales Problem im innerdeutschen Vereinigungsprozess: Drei Jahrzehnte lang wurde der gesamte Einheitsdiskurs primär als eine Debatte zwischen West- und Ost-Deutschen geführt.[4] Und fatalerweise hat die Dominanz der Pegida- und AfD-Debatte der vergangenen fünf Jahre unter ihrem Leitmotiv „Integriert doch erst mal uns“ (Petra Köpping) diese Fokussierung auf die „biodeutschen“ Bürger noch zusätzlich verstärkt.
Wer dagegen bis heute keine adäquate Stimme im öffentlichen Einheitsdiskurs hat, sind die Millionen von Menschen mit Migrationsgeschichte, die in der 75jährigen bundesrepublikanischen Geschichte längst zu Deutschen geworden sind. Auch mangels eigener Lobby kommen sie in der Debatte kaum vor. Dabei ist der Migrationshintergrund in weiten Teilen Deutschlands längst der Normalfall. Laut der jüngsten Erhebung des Statistischen Bundesamts hatten im vergangenen Jahr gut 21 Millionen Menschen und somit 26 Prozent der Bevölkerung in Deutschland einen Migrationshintergrund.[5] Speziell in Großstädten liegt der Anteil gerade bei der jüngeren Generation sogar deutlich über 40 Prozent. Die meisten von ihnen sind gut integriert und tragen mit ihrer Arbeit zum Wohlstand des Landes bei. Migration und ihre Folgen sind hier also nicht das Problem, sondern die Realität – aber leider immer noch keine Normalität in den öffentlichen Debatten.
Dreißig Jahre nach Herstellung der deutschen Einheit brauchen wir offensichtlich eine grundlegende Verständigung über die Frage, wer heute mit dem „Wir sind das Volk“ gemeint ist.
Eine solche Debatte müsste aber schon bei den Begriffen ansetzen – und bei der folgenreichen Einteilung in Bio- und sonstige Deutsche. „Betroffenheit reicht längst nicht mehr“, sagte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble nach den Anschlägen von Hanau. Gefordert sei in erster Linie „Aufrichtigkeit“. Das aber würde bedeuten, zuerst einmal anzuerkennen, dass wir es heute mit einer völlig anderen Gesellschaft als vor 75 oder auch noch vor 30 Jahren zu tun haben – und dass wir eine gänzlich andere Antwort auf die aktuellen Probleme geben müssen als „Die Migration ist schuld“.
Woher kommt die Gewalt?
Eine Funktion erfüllt „der Migrant“ als Sündenbock nämlich allemal. Er exkulpiert die Mehrheitsgesellschaft – und erspart ihr die eigentliche, schmerzhafte Frage: Woher kommt die Gewalt, die sich heute regelmäßig gegen die Polizei entlädt?
Quelle : Blätter >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Demonstration von und Verschwörungsgläubigen und Rechtsextremen unter dem Motto „Tag der Freiheit – Das Ende der Pandemie“ gegen die Schutzmaßnahmen gegen das Coronavirus, gegen die bei der Demonstration demonstrativ verstoßen wurde, was zur formalen Auflösung der Demonstration und anschließenden Kundgebung führte am 1. August 2020 in Berlin.
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2.) von Oben — Demonstration von und Verschwörungsgläubigen und Rechtsextremen unter dem Motto „Tag der Freiheit – Das Ende der Pandemie“ gegen die Schutzmaßnahmen gegen das Coronavirus, gegen die bei der Demonstration demonstrativ verstoßen wurde, was zur formalen Auflösung der Demonstration und anschließenden Kundgebung führte am 1. August 2020 in Berlin.
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Unten — Demonstration von und Verschwörungsgläubigen und Rechtsextremen unter dem Motto „Tag der Freiheit – Das Ende der Pandemie“ gegen die Schutzmaßnahmen gegen das Coronavirus, gegen die bei der Demonstration demonstrativ verstoßen wurde, was zur formalen Auflösung der Demonstration und anschließenden Kundgebung führte am 1. August 2020 in Berlin.