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Die Macht der Kinder

Erstellt von Redaktion am Mittwoch 2. Oktober 2019

Unbequeme Wahrheiten

Gitana 16 Lorient 2015.jpg

Eine Kolumne von

Derzeit ist viel von Kindern die Rede. Über den sehnsüchtigen Wunsch nach wahren Antworten aus Kindermund wird häufig übersehen, dass die größten Lügen meist in den Fragen stecken.

Traumwelt

In Ridley Scotts Film Blade Runner (1982) spielt der Genetik-Designer J. F. Sebastian mit Spielzeug, das eine seltsame, traumversponnen-grausame Position zwischen Kind und Maschine einnimmt. Wirkliche Kinder kommen nicht vor; vielmehr sind in der Welt der Tyrell Corp. die Menschen zu Kindern geworden, die zwischen sich selbst und ihren Puppen nicht mehr unterscheiden können.

Heute scheint es dem aufgeklärten Bürger der Metropolen vertraut, dass jeweils alle anderen lügen, und zwar immerzu und mit Fleiß. Das gilt namentlich für diejenigen Menschen, die Interessen verfolgen, welche nicht die seinen sind, außerdem bevorzugt für Eliten und Politiker, Journalisten und Intellektuelle. Harte Fakten zerfließen unter den Händen zu vagen Annahmen, das Leben erscheint als menschenwürdegefährdende Zumutung angesichts der Verpflichtung des Schicksals, für Happiness über den Tod hinaus zu sorgen.

Die Wahrheiten scheinen dahin, seit es keine Hölle mehr gibt und der Tod eine Vorabendserie ist. Der Bundesgesundheitsminister hat einen Plan entwickelt, ihn zumindest für den Fall abzuschaffen, dass nicht ein doppelter Widerspruch in das Recyclingregister eingetragen wird. So viel Ewigkeit soll sein, dass jedenfalls die Facebook-Posts und die Bauchspeicheldrüse drei Generationen überstehen. Was die Welt im Übrigen zu bieten hat, bewegt sich zwar in der Form von Breaking-news-Laufbändern, bleibt aber neblig hinter Milchglas. Zufall ist das nicht. In den Kinderwelten des entfesselten Zinses nimmt man mit Träumen vorlieb. Hierfür will ich zwei aktuelle Beispiele nennen.

Kinderwelt

Am 20. September 2019 habe ich in der „Süddeutschen Zeitung“ folgenden Satz gelesen: „Vielleicht wird man von ihrer Reise über den Atlantik dereinst als Beginn einer Zeitenwende sprechen.“ Hier war, wie Sie ahnen werden, die Rede von einem Wesen, vor dem derzeit Herr Bundesminister Altmaier in der Sonntagsabends-Show, Frau Bundeskanzlerin sowieso, und überhaupt jedermann den allergrößten Respekt bekunden. Es ist klar: Wenn die deutsche Leitpresse das Wort „dereinst“ verwendet und vom eigenen Ernst ganz durchdrungen ist, werden wir Zeuge von etwas wirklich Großem. Ein Messias, ein Moses im Körbchen, eine blinde Seherin, ein Mägdlein im Stall ist der Welt erschienen; das leuchtende Stigma des auf allen Kanälen „milde“ genannten Wahnsinns hat sich an die Spitze des Heeres gesetzt.

Die Zeitenwende-Story war mit der Reise an Bord eines fliegenden Teppichs schon fast maximal hochgefahren. Die Gefühlsmaschine suchte anfänglich noch den richtigen Sound. Das Gemäkel am Rückflugs-Spritverbrauch von Herrn Pierre Rainier Casiraghis Formel-Eins-Teppich war eindeutig zu kleinkariert, und die Fotos von der ersten USA-Reise der Beatles lagen schon im Ansatz daneben. Die Geschichte vom schneeweißen Kinderfuß der Unschuld, vom schwankenden Abgrund des Schicksals auf den Boden einer neuen Welt gesetzt, war um Klassen besser.

Mit der aus Hollywood direkt an den Mund der Lady Liberty hingeflogenen Frage „Wie konntet ihr es wagen, meine Träume und meine Kindheit zu stehlen mit euren leeren Worten?“ dürfte der Ekstase-Peak jetzt erreicht sein; für noch mehr Punkte auf der internationalen TV-Gänsehautskala müssten schon Drohungen mit Kollektivsuiziden in der Sekundarstufe 1 her. Erste deutsche Politiker, so lasen wir, „gingen auf Distanz“ und ließen den guten alten Klaus Töpfer hochleben. Noch ein Weilchen, und Herr Minister Altmaier, ein wirklich großer Zauberer auf jedem Kindergeburtstag, wird die Ruferin, die vom nahen Ende der Welt kündet, nach eigener Beurteilung aber „shouldn’t be up here, but back in school on the other side of the ocean“, im Fernsehen nicht mehr „Frau Thunberg“ nennen.

Ob das erfreulich ist oder bedauerlich, spielt hier keine Rolle. Es geht mir nicht um dieses spezielle, sondern um das Menschenkind als solches, dessen Reise über den jeweiligen Ozean unter den Top-Ten-Zeitenwenden gelistet werden soll. Es ist ja bekanntlich nicht lange her, dass ein anderes Kind seinen Fuß an ein Gestade setzte, woraufhin ebenfalls von einer Zeitenwende die Rede war. Das Kind hieß Alan Kurdi. Sie werden sich, verehrte Leser, daran erinnern, dass das Bild seiner Ankunft auch in der deutschen Presse als „ikonisch“ gefeiert wurde. In einer abgewandelten Pop-Art-Variante können Sie es an einer Brücke am Frankfurter Osthafen betrachten. An der damals ausgerufenen Zeitenwende arbeitet eine interministerielle Arbeitsgruppe.

Mir scheint, beide Kinder haben das nicht verdient. Die Zeitenwenden, von denen die Rede ist, verbinden sich aber auf seltsame Weise. Ihr Aufstieg und Fall beleuchten, neben anderem, die exzessive Infantilisierung der entwickelten Kulturen des sogenannten Westens. Bewegt nehmen die Eliten der reichsten Länder die Kinderbotschaft entgegen, dass die Welt untergehen werde. Das Klimakabinett verhandelt neunzehn Stunden und ist wirklich stolz. Die Bundeskanzlerin, während sich ihre Augen vor Müdigkeit nach hinten verdrehen, spricht: Wir haben den Weckruf der jungen Leute gehört. Die Weltpresse berichtet, dass die Rede des Kindes Thunberg vor der Uno-Versammlung die Erwartungen nicht erfüllt habe. Die Steuer auf Benzin, sagt das Verfassungsorgan Klimakabinett, wird in fünf Jahren um zwölf Cent erhöht. Wenn nicht, werden die Inder schon sehen, was sie davon haben.

Schöne Welt

Quelle        :           Spiegel-online              >>>>>          weiterlesen

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Grafikquelle         :

Oben         —           Le 60 pieds IMOCA Gitana 16, skippé par Sébastien Josse, dans le port de Lorient

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Unten              —       Thomas Fischer auf der re:publica 2016

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