Die große Trennung
Erstellt von Redaktion am Mittwoch 7. April 2021
Die Geburt der technokratischen Weltsicht und die planetarische Krise
von Fabian Scheidler
Die Krise des durch massive menschliche Eingriffe beschädigten Lebens auf der Erde, die unter dem Namen Anthropozän firmiert, ist eng mit einem technokratischen Programm verbunden, das die Natur zu einer abgespaltenen und beherrschbaren Ressource in der Hand des Menschen degradiert. Obwohl die Naturwissenschaften – von der Quantenphysik bis zur Systembiologie – diese Vorstellung zum Teil längst überwunden haben, ist die technokratische Ideologie heute wirkmächtiger denn je. Der Grund dafür liegt in der engen Verbindung dieses Weltbildes mit dem vorherrschenden Wirtschaftsmodell.
Als sich die modernen Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert in Europa entwickelten, vollzog sich gerade ein systemischer Umbruch, der in seiner Bedeutung nur mit der neolithischen Revolution – also der Entstehung der Landwirtschaft – vor etwa 10 000 Jahren und der Formation der ersten Herrschaftsapparate und Staaten vor 5000 Jahren zu vergleichen ist. Es war die Geburt dessen, was man später das moderne, kapitalistische Weltsystem genannt hat.[1] In jahrhundertelangen Kämpfen untereinander und gegen die bäuerliche Bevölkerung brachten Handelsmagnaten, Bankiers, Landesherren, Rüstungsfabrikanten, Großgrundbesitzer und Teile der Kirche ein System hervor, das vollkommen neu in der menschlichen Geschichte war. Es sollte sich als das produktivste und dynamischste, aber auch gefährlichste und gewalttätigste Gesellschaftssystem erweisen, das Homo sapiens je geschaffen hat. In wenigen Jahrhunderten eroberte es den gesamten Globus und wurde so zur ersten weltumspannenden Zivilisation. Und zur ersten Zivilisation, die in der Lage ist, den Planeten zu zerstören.
Der Kern dieses neuartigen Systems ist die endlose Vermehrung von Kapital in einem ununterbrochenen Zyklus von Profit und Reinvestition. Darin unterscheidet es sich grundlegend von anderen historischen Herrschaftsordnungen wie etwa dem Römischen Reich oder chinesischen Großreichen. Das Prinzip endloser Akkumulation ist in mächtigen Institutionen verankert, darunter Aktiengesellschaften und Bankhäusern, deren einziger Zweck darin besteht, eingelegtes Kapital zu vermehren, egal mit welchen Mitteln. Heute kontrollieren die 500 größten multinationalen Konzerne, die nach diesem Prinzip organisiert sind, etwa 40 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung und zwei Drittel des Welthandels.[2]
Die zweite tragende Säule dieser neuen Ordnung war der moderne Militärstaat, der sich seit dem 16. Jahrhundert co-evolutionär mit den wirtschaftlichen Machtstrukturen entwickelte. Für ihre immer größeren Söldnerheere und Feuerwaffen brauchten die Landesherren enorme Mengen an Kapital, das ihnen die Händler und Bankiers als Kredit zur Verfügung stellten. Das return on investment der Kreditgeber wiederum wurde aus den Raubzügen der von ihnen finanzierten Heere bestritten. Militarisierte Staaten und privates Kapital waren auf diese Weise von Anfang an untrennbar verflochten. Dieses System war und ist auf permanente ökonomische und militärische Expansion angewiesen, um das angelegte Kapital zu vermehren. Die von Europa ausgehende Kolonisierung der Welt war daher eine systemische Notwendigkeit, um die Maschinerie der Akkumulation in Gang zu halten.[3]
Diese Entwicklung hatte erhebliche Auswirkungen auf die Geburt der modernen Naturwissenschaften, ja, es gibt gute Gründe für die Annahme, dass sie ohne die kapitalistische Kriegsökonomie in dieser Form gar nicht entstanden wären. Händler, Bankiers und Landesherren brauchten für ihre Unternehmungen Technologie, zumal sie stets fürchten mussten, von der Konkurrenz überrollt oder verdrängt zu werden. Eine Klasse von ingeniariientstand, zu denen auch Erfinder wie Leonardo da Vinci und Galileo Galilei gehörten, die einen erheblichen Teil ihres Lebensunterhalts mit der Entwicklung militärischer Vorrichtungen bestritten. Die Entdeckung und mathematische Beschreibung der Fallgesetze und der Wurfparabel durch Galileo etwa hatte eine wichtige militärische Bedeutung, konnte man damit doch die Flugbahnen von Kanonenkugeln wesentlich besser berechnen. Auch Newtons Hauptwerk, die „Principia Mathematica“ (1687), in dem er seine Gravitationstheorie und die Grundlagen der Mechanik niederlegte, entsprang keineswegs einer Elfenbeinturm-Wissenschaft, sondern antwortete bis ins Detail auf die technischen Bedürfnisse der damaligen Kriegsführung, der Schifffahrt und des Bergbaus. Berechenbarkeit wurde zu einer entscheidenden Kategorie für Militärs, staatliche Beamte, Buchhalter und Investoren. Daher ist es kein Wunder, dass auch in der damaligen Forschung das Messen und Zählen immer mehr Vorrang vor qualitativen Betrachtungen bekam. Die Kultur, in der die modernen Wissenschaften geboren wurden, war vom Rechnen geradezu besessen, denn davon hing der militärische, politische und ökonomische Erfolg entscheidend ab.
Die Pioniere der neuzeitlichen Naturwissenschaften konnten meist nur ihren Lebensunterhalt verdienen und Karriere machen, wenn sie den Fokus ihrer Untersuchungen auf Dinge konzentrierten, die privaten und staatlichen Geldgebern nützlich waren. Ökonomie, Militär und Politik hatten daher erheblichen Einfluss auf die Auswahl von Forschungsgegenständen und Methoden. Es war außerdem keine Seltenheit, dass Wissenschaftler unmittelbar an der kapitalistischen Eroberung der Welt beteiligt waren. Viele der führenden Köpfe der frühneuzeitlichen Wissenschaft, darunter Francis Bacon, Robert Boyle, Christiaan Huygens, John Locke und Isaac Newton, waren Anteilseigner, Mitarbeiter oder sogar Direktoriumsmitglieder der großen Aktiengesellschaften, die gewaltsam die Kolonisierung Nordamerikas, Asiens und Afrikas vorantrieben. Für einige dieser Forscher war die Verbindung zum kolonialen Projekt nicht allein eine Sache der persönlichen Bereicherung. Für Robert Boyle etwa, einen glühenden Puritaner, war die Expansion des britischen Imperiums durch Aktiengesellschaften ein Mittel, um, wie er es ausdrückte, das „Imperium des Menschen über die niederen Geschöpfe“ herzustellen, das Adam in der Genesis verheißen worden war („Macht euch die Erde untertan.“). Christliche Mission, Kapitalakkumulation, koloniale Gewalt und Wissenschaft formierten sich zu einer Quadriga der Welteroberung und der Beherrschung der „niederen Geschöpfe“.
Die Natur als Objekt
Selbst wenn Forscher nicht so unmittelbar in die kapitalistische Expansion verstrickt waren wie etwa Boyle oder Bacon, so atmeten sie doch die Weltanschauung der Schicht, in der sie verkehrten und von der sie bezahlt wurden, täglich mit ein. Und diese Geisteshaltung war stark von einer Kultur der Berechnung geprägt. Die Welt war zu einem Spielfeld aus Ressourcen und Risiken geworden, auf dem es galt, sich durch geschicktes Kalkül möglichst viel anzueignen. Die Natur wurde so von einem lebendigen Netz, in das die Menschen eingebettet waren, Schritt für Schritt zu einem Objekt, das ihnen gegenüberstand.
Die Epoche der Renaissance, in der sich das neue System formierte, war geprägt von diesem fundamentalen kosmologischen Umbruch. Auf der einen Seite standen verschiedene Formen „organischer“ Weltbilder, die den Kosmos als ein Ganzes auffassten, beseelt von einer anima mundi (Weltseele).Giordano Bruno (1548-1600) etwa vertrat die Auffassung, dass das Universum sowohl unendlich als auch durchgehend beseelt sei, eine Idee, für die er von der römischen Inquisition schließlich bei lebendigem Leibe verbrannt wurde. „Es ist nicht vernünftig, zu glauben“, schrieb er, „dass irgendein Teil der Welt ohne Seelenleben, Empfindung und organische Struktur sei.“[4] Johannes Kepler stand, eine Generation später, bereits an der Scheidelinie zu einer mechanistischen Betrachtungsweise. Er teilte zwar das organische Weltbild, insofern er zumindest die Erde als lebendiges Ganzes mit einer anima terrae ansah; zugleich aber schien ihm die Organismusmetapher nicht hilfreich, um die Bewegung der Gestirne zu verstehen. So schrieb er 1605 an einen Freund: „Mein Ziel ist es zu zeigen, dass die Himmelsmaschine nicht einem göttlichen Organismus gleicht, sondern einem Uhrwerk.“[5] Die im 14. Jahrhundert erfundene mechanische Uhr wurde zu einer zentralen Metapher für das neue Zeitalter. Doch erst in der Epoche des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) – eine weitere Generation später – traten Philosophen und Naturforscher wie René Descartes, Pierre Gassendi und Thomas Hobbes auf den Plan, die nicht nur die Planetenbewegungen, sondern auch die gesamte lebendige Welt als eine Maschine betrachteten (wobei Descartes den menschlichen Geist davon ausnahm).
Es wäre allerdings irreführend zu glauben, dass dieser kosmologische Umbruch bereits im 17. Jahrhundert die ganze Gesellschaft erfasst hätte. Zum einen waren die Ansichten der Mechanisten zu ihrer Zeit und auch noch Jahrhunderte später Gegenstand erbitterter Kontroversen, auch unter Wissenschaftlern. Zum anderen beschränkte sich die mechanistische Philosophie zunächst auf eine bestimmte Schicht von – fast ausschließlich männlichen – Gelehrten und Ingenieuren sowie Kaufleuten, Fabrikbesitzern, Regenten und Militärs, deren Art, mit der Welt umzugehen, durch die neue Lehre reflektiert und legitimiert wurde. Menschen hingegen, die den größten Teil ihrer Zeit mit Sorge- und Beziehungstätigkeiten verbringen, etwa subsistenter Landwirtschaft, Kindererziehung oder Betreuung von alten Menschen, konnten der Idee, dass die Welt eine Maschine ist, stets wenig abgewinnen. Erst in dem Maße, wie die gesamte Gesellschaft, von der Schule über die Landwirtschaft bis zur Fabrik, nach dem Modell der Maschine umgebaut wurde, konnte sich die technokratische Ideologie in der Breite durchsetzen.
Die Große Trennung lässt sich auf verschiedenen Ebenen verfolgen.[6] In der Malerei etwa, die in den frühkapitalistischen Zentren Italiens und der Niederlande eine rasante Entwicklung durchmachte, setzte sich seit dem 15. Jahrhundert nach und nach die Zentralperspektive durch, die auch für unsere heutige Bilderwelt bis hin zum Cyberspace charakteristisch ist. Während in früheren Darstellungen, ob im europäischen Mittelalter oder im alten Ägypten, Figuren und Dinge nach ihrer Bedeutung und ihren Beziehungen geordnet waren, sind sie in der Zentralperspektive entlang einer Linie angeordnet, die vom Auge des Betrachters zu einem imaginären Fluchtpunkt in der Ferne führt. Der Mensch steht einer durchschaubaren und mathematisch geordneten Welt gegenüber, die er erobern und sich aneignen kann.[7] Als Hilfsmittel zur Konstruktion der Perspektive wurde oft ein Fadengitter benutzt, das die Welt in Planquadrate zerlegte.
Die Obsession der Zerlegung, die prägend für die westliche Moderne werden sollte, hatte zwei verschiedene Seiten: Zum einen machte sie eine bis dahin unerhörte Genauigkeit der Untersuchung möglich und förderte auf diese Weise verborgene Strukturen sowohl der anorganischen als auch der organischen Sphäre zutage. Diese rigorose Konzentration hat erheblich zu den Erfolgen der Naturwissenschaften beigetragen. Auf der anderen Seite machte dieser Fokus aber auch viele Zusammenhänge unsichtbar. Insbesondere Kreislaufprozesse, die in der Natur eine so wichtige Rolle spielen, wurden auf diese Weise ausgeblendet. Es ist bemerkenswert, dass trotz der enormen Entwicklung der Naturwissenschaften seit dem 17. Jahrhundert erst in den 1940er Jahren die einfachen Prinzipien kybernetischer Regelkreise formuliert wurden.[8] Lebende Systeme beruhen auf komplexen Wirkungskreisen, bei denen jeder Teil zugleich Ursache und Wirkung sein kann. Zerlegt man diese ineinander verschlungenen Kreisläufe in einzelne Kausalvorgänge, um lineare Gleichungen vom Typ „aus A folgt B“ zu erhalten, dann versteht man zwar die Details immer genauer, das Ganze aber immer weniger. Ein kurzer Abschnitt eines großen Kreises kann einer Geraden zum Verwechseln ähnlich sehen – und so zu der Illusion verführen, die Zusammensetzung solcher Teilstücke würde am Ende eine lineare Kausalkette ergeben.
Auf diesem Irrtum beruht die Idee, der Mensch könne die Natur steuern und beherrschen, wenn er nur all die kleinen Kausalabschnitte addiert und die Parameter kontrolliert. Ein typisches Beispiel für diese Täuschung ist der Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft. Die Anwendung der Chemikalien tötet zwar zunächst die Schädlinge und steigert die Erträge in linearer, berechenbarer Weise, doch wird zugleich der gesamte Kreislauf unterbrochen, in dem Insekten, Pilze und Pflanzen, die durch das Mittel ausgelöscht werden, eine entscheidende Rolle spielen. In der Folge verschwinden bestäubende Insekten und mit ihnen die Vögel, Bodenlebewesen sterben, die Fruchtbarkeit sinkt, und multiresistente Schädlinge breiten sich aus, die nun ein leichtes Spiel haben, weil auch ihre Fressfeinde ausgerottet wurden. Am Ende kann der Acker nur noch durch einen ständig steigenden Einsatz von weiteren Pestiziden und Düngern produktiv gehalten werden, bis er irgendwann tot ist. Die ökologische Vernichtung, die am Ende dieser Entwicklung steht, ist keine zufällige „Nebenwirkung“, sondern die zwingende Konsequenz, wenn man lebendigen Kreisläufen mit Methoden zu Leibe rückt, die dafür ersonnen wurden, die Flugbahnen von Kanonenkugeln zu errechnen.
Der Mensch als Objekt und die Spaltung von Körper und Geist
Quelle : Blätter >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Autor – Ali Inay 2014-10-28
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