Doppeldeutige Revolution
Erstellt von Redaktion am Donnerstag 7. November 2019
Die Fälschung der Geschichte : 30 Jahre 1989
Die Narren der Politik lassen sich für die Erfolge des V0lkes feiern.
Von Jens Reich
Für die politischen Ereignisse, die im Herbst 1989 ihren Anfang nahmen und nach einem turbulenten Jahr am 3. Oktober 1990 mit dem Beitritt zur Bundesrepublik das Ende der DDR besiegelten, haben sich in der kollektiven Wahrnehmung zwei konkurrierende Bezeichnungen und ein weltweit anerkanntes Ereignis von symbolischer Wirkung festgesetzt. „Wende“ und „Friedliche Revolution“ sind die beiden Sammelbezeichnungen, und das symbolische Ereignis ist der „Fall der Mauer“ am 9. November 1989. Alle drei Begriffe haben in den drei Jahrzehnten seither neben ihrem faktischen Inhalt einen propagandistischen Beigeschmack bekommen.
Das Wort „Wende“ hat eine nicht aufhaltbare Karriere im Sprachgebrauch gemacht, weil es in der Alltagssprache kurz und geschmeidig den Bezug auf die Zeit vor und die nach 1990 herzustellen gestattet: „vor der Wende“ und „nach der Wende“. Viele Zeitgenossen von damals, mich eingeschlossen, finden das ärgerlich, weil das Wort, das vor 1989 in der Bundesrepublik der Kohl-Ära im politischen Sprachgebrauch war, von den ums politische Überleben ringenden SED-Machthabern (Egon Krenz vor allem) als Vorspiegelung einer das System rettenden Kurskorrektur übernommen wurde. Das Volk wollte mit einer solchen Wende definitiv nichts zu tun haben, und der Volksmund (schon vor Christa Wolf in ihrer Rede vom 4. November) nannte die solche friedlichen Reformen beteuernden Genossen „Wendehals“. Zufällig war der Spechtvogel Wendehals 1988 von Ornithologen zum Vogel des Jahres ausgerufen worden, und das lieferte dem Karikaturisten der „Zeit“ die Anregung zu einer hoch amüsanten Karikatur. Sie stellte einen im gezackten Loch der Berliner Mauer sitzenden, stark gerupften Vogel mit der unverkennbaren Physiognomie des Egon Krenz dar: „Wendehals, Vogel des Jahres“.
Seitdem bemühen sich Aktivisten der damaligen Umwälzung ebenso wie Journalisten und Zeithistoriker darum, anstelle der Wende die umständliche Fügung „Friedliche Revolution“ als den Sachverhalt treffende Bezeichnung in den kollektiven Sprachgebrauch zu integrieren. Auch diese Wendung hat unverkennbar überredende Absicht. „Friedlich“ im Sinne von „friedfertig“ war die Volkserhebung gewiss nicht, „gewaltfrei“ wäre das passende Adjektiv, und ob es tatsächlich eine Revolution gewesen ist, darüber streiten die Theoretiker bis heute. Wer in der DDR zur Schule gegangen ist und danach noch weiter Zeitung gelesen hat, begreift unter diesem Schlüsselbegriff der marxistischen Lehre (mit dem paradigmatischen Beispiel der Großen Französischen Revolution von 1789) eine gewaltsame (!) Umwälzung der grundlegenden Eigentums- und Produktionsverhältnisse und der zugehörigen Staatsstruktur und damit des gesamten Überbaus, also der gesellschaftlichen und kulturellen Lebensverhältnisse der Bevölkerung eines Landes. Dass so etwas 1989 stattgehabt hat, wird wohl jeder intuitiv bestätigen, der zur Bevölkerung dieses Staates gehört hat, ungeachtet jeder politologischen Interpretation.
Bleibt man bei der marxistischen Staatsdoktrin, dann wird man allerdings vielleicht eher der Bezeichnung „Konterrevolution“ zustimmen müssen, denn intuitives Ziel und erreichtes Ergebnis der Volksbewegung war definitiv nicht die Errichtung einer neuen Gesellschaftsordnung, sondern die Wiederherstellung einer vormaligen, näherungsweise vielleicht des Weimarer Systems. Dass es die Übernahme der gesamten gesellschaftlichen Ordnung der Bundesrepublik werden würde, und nicht allein ihres Wohlstands, hatten vielleicht manche von Anfang an im Sinn, waren jedoch später besorgt und hätten gern manches Gewohnte behalten. Anders kann ich mir jedenfalls den Stoßseufzer nicht erklären, den ich nach 1990 oft gehört habe, als es Realität wurde: „Dafür haben wir die Revolution nicht gemacht!“
Mit „Fall der Mauer“ ist das eigentliche Ereignis ebenso unklar beschrieben. Die Mauer fiel ja gar nicht, metaphorisch begriffen, durch Einwirkung des Volkes um (wie in der Bibel bei Josua 6:20: „Da erhob das Volk ein großes Kriegsgeschrei, und man blies die Posaunen. Da fiel die Mauer um…“) – das Verdienst für die Öffnung am 9. November kommt vielmehr Günter Schabowski zu („sofort, unverzüglich…“), sowie dem Grenzpolizisten Harald Jäger („Wir fluten jetzt!“). Das revolutionäre Volk verhielt sich brav und versprach: „Wir kommen zurück!“, ließ sich den Ausweis zur vermeintlichen Dauer-Ausreise stempeln und inspizierte den Westen.
Wir sind das und/oder ein Volk
Ähnlich doppeldeutig stehen die beiden berühmten, damals vor allem in Leipzig gerufenen Losungen „Wir sind das Volk“ und, Wochen danach: „Wir sind ein Volk“. Der erste Slogan lässt sich sehr energisch von einer anonymen Menge skandieren, mit deutlichem Akzent auf dem alle vereinigenden „Wir“, und er suggeriert die Fortsetzung „…und nicht ihr da oben, ihr SED-Bonzen und Blockflöten!“. Beim zweiten Slogan ergibt sich kein solcher taktgerechter Rhythmus, weil die Betonung auf das Wort „ein“, das als Variation des ersten auftrat, sich nicht einstellen will – der zweite Satz rumpelt vielmehr synkopierend dahin. Skandiert man den zweiten Satz so energisch wie den ersten, dann verkrümelt sich das unbetonte „ein“ in die Umgebung von „ein beliebiges“ und lässt unartikuliert zurück, dass bereits damals die tendenzielle Spaltung bestand zwischen denen im „einigen Volk“, die den Beitritt sofort und bedingungslos wollten, und den anderen, die sich ihm gegenüber zögernd oder sogar ablehnend verhielten.
Diese Doppeldeutigkeit wohnte dem umstürzenden Aufbruch von Anfang an inne. Die widersprüchlichen Begriffspaare „Oben-Unten“, „Ost-West“ „Umwälzung-Kurskorrektur“, „liberal-illiberal“ waren in jenen Wochen alle gleichzeitig handlungswirksam vorhanden, aber eine Entscheidung wurde vertagt und bis heute nicht eingelöst. Im Gegenteil: Nachdem die Hängestellung eine Dekade lang beruhigt erschien, brechen nun, im dreißigsten Jahr danach, die Widersprüche als Feldzeichen politischer Gegensätze wieder auf.
Drängten die Fordernden und Handelnden damals mit dem Ruf „Wir sind ein Volk“ auf Öffnung der Mauern, auf Sprengung der Grenzen, nach Freiheit, „ins Offene“, so skandieren sie heute wieder „Wir sind das Volk“ (und diesmal nicht „ein Volk“) und meinen neue Abgrenzung und Ausgrenzung, Wiederherstellung von Kontrolle und Ablehnung jeglicher Veränderung, wie sie die globale Entgrenzung mit sich bringt. Die vehemente öffentliche Zurückweisung von Bewegungen wie AfD und Pegida durch eine Mehrheit der Bevölkerung bedeutet auch, dass man die im eigenen politischen Denken vorhandenen ambivalenten Tendenzen verdrängen möchte.
Gerade die im Osten politisch erwachsen Gewordenen leben heute mit zwiespältigen Tendenzen: Damals war die Mehrheit vehement für die schnelle Wiedervereinigung, heute gilt sie als von der Bonner Elite übergestülpt. Analog unterstützen heute die meisten, dass Flüchtlinge aufgenommen werden, aber meinen gleich darauf, dass der anstehende globale Flüchtlingsstrom eingegrenzt werden müsse, um das prekäre Gleichgewicht zwischen Freiheit und Sicherheit nicht zu gefährden. Fehlende Sicherheit bezieht sich dabei sowohl auf global entstehende Zumutungen wie auf intern aufgebrochene soziale und politische Konflikte.
Neue Krisen, neue Polarisierungen
Vor zehn Jahren, also zum 20. Jubiläum des Herbstes 89, konnte man meinen und habe auch ich gemeint, dass die mehr oder weniger gelungene Revolution zur Vergangenheit gehöre, alle Messen gelesen und ihr Kanon in zahllosen Büchern, Zeitschriftenartikeln und Audio- und Videodokumentationen niedergelegt wäre. Der gewaltlose Volksaufstand habe im Osten die Bürgerfreiheiten und Menschenrechte wiederhergestellt und im Übrigen eine Gesellschaft gebildet, die sich mental und in ihrer Wirtschaftsverfassung dem Vorbild der Bundesrepublik West langsam annähere. Die politische Willensbildung und ihre Realisierung liefe weitgehend über die Parteien, die aus der Zivilgesellschaft Wünsche und Forderungen aufnähmen, diese auf Durchführbarkeit und Mehrheitsfähigkeit prüften und gegebenenfalls über Parlamente und Regierungen realisierten. Offen blieb allerdings die Frage, ob diese Demokratie wirklich stabil wäre, wenn es zu ernsten gesellschaftlichen Krisen käme.
Krisen, von außen hineingetragene wie intern entstandene, haben wir seitdem in der Tat zahlreich erlebt. Und von grundlegenden Lösungen sind wir weit entfernt: Die Träger des politischen Handlungsmandats „fahren auf Sicht“, versuchen unbefriedigende Kompromisse und schieben die prinzipiellen Entscheidungen dilatorisch in die Zukunft.
Wendehals (Jynx torquilla)
Die politische Stimmung im Wahlvolk tendiert derweil zu je einem von zwei kaum zu vermittelnden Polen: einerseits liberal, menschenrechts- und bürgerfreiheitlich gesinnt, weltoffen, einwanderungsfreundlich, reformgläubig und Europa-affin und andererseits autoritär, nationalbewusst, migrationskritisch, abgrenzungs- und kontrollorientiert. Für die einen hat der Staat als Hauptaufgabe, die Freiheit des Individuums zu gewährleisten, während die anderen die Herstellung von Sicherheit und Ordnung für vorrangig erklären. Hinsichtlich der die Zukunft entscheidenden ökologischen Frage halten die einen radikalen Umbau der die Biosphäre als Ganzes gefährdenden Lebensweise für notwendig, meist ohne sich der einschneidenden Konsequenzen für das eigene Leben bewusst zu werden. Andere bestreiten die Krise oder halten sie für nicht beeinflussbar oder meinen auch, dass wenn eine ausbräche, sie durch technische Erfindungen und Maßnahmen durch „Wachstum“, ohne Verzicht, aufzulösen sei.
Der mentale Graben zwischen den beiden Tendenzen prägt sich im Gebiet der vormaligen DDR am deutlichsten aus. So deutlich, dass es schwierig wird, handlungsfähige Landesregierungen und teilweise auch kommunale politische Verwaltungen zu bilden.
Quelle : Blätter >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Transparent gegen Wendehälse bei einer Montagsdemonstration