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Die Dame im blauen Mantel

Erstellt von Redaktion am Sonntag 29. Oktober 2017

Die Dame im blauen Mantel

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Eine Erzählung von Marmar Kabir

Schon sehr lange hat kein Arm ihren noch festen Körper umschlungen, keine Hand ihre glatte, weiße Haut liebkost, kein Kuss ihre vollen Lippen berührt. Der leichte marineblaue Mantel, ein treuer Begleiter, hat ihre Formen angenommen. Er hüllt sie ein und umfängt sie. Das ebenso unverzichtbare wie störende weiße Tuch umschließt ihr rundes Gesicht, bedeckt ihr Haar und endet unter dem Kinn in einem festen Knoten.

Sie stammt aus Täbris, hat blaue Augen und dunkelblondes Haar, das jetzt grau wird, mit seinem orientalischen Strahlen aber kräftiger, fester und dichter wirkt als das der europäischen Frauen. Ihr Rücken ist leicht gebeugt, als trüge sie die Last der Jahre.

Sie betritt den Wartesaal von „Atieh sazan“ (Erbauer der Zukunft) in der ersten Etage eines Hauses im Norden Teherans. Hier hat die Rentenversicherung für das Bildungswesen eine Anlaufstelle eingerichtet, wo medizinische Dokumente für eine mögliche Kostenerstattung entgegengenommen werden. „Nummer 534, Ihre Unterlagen sind nicht vollständig, wir benötigen alle Originale, hier ist nur der Arztbericht des PET-Scan, wir brauchen die Überweisung und alle Befunde im Detail, wir brauchen auch die Originale der Laboruntersuchungen, mit Arztstempel.“

Sie erklärt mit schwacher Stimme, dass sie nichts anderes habe. Die junge Frau hinter dem Schalter antwortet laut, damit auch andere es hören und sich zu Herzen nehmen: „Lesen Sie gefälligst, was da an der Wand steht. Können Sie lesen? Wir brauchen alle Originale, wenn Sie die nicht haben, müssen Sie noch mal ins Krankenhaus … Antworten Sie mir, können Sie lesen oder nicht?“

Sie hat keine Gelegenheit zu antworten, sammelt ihre Papiere ein, geht zur Treppe und zieht den Knoten von ihrem Kopftuch fest.

Sie war Lehrerin und hatte gerade ihre Lehrerlaubnis für Literatur erhalten, als die Universitäten wegen der Studentenunruhen nach der Revolu­tion geschlossen wurden. An der Uni hatte sie ihren Mann kennengelernt, einen Dichter und linken Aktivisten.

Als sie heute, am Sonntag, dem 17. September 2017, auf den Bus wartet, um ins Khatam-Krankenhaus beim Mellat-Park zurückzufahren und die Originale der Befunde zu erbitten, die das Vorhandensein eines Tumors irgendwo in ihrem Körper bestätigen, liest sie die Überschriften der auf dem Boden herumliegenden Zeitungen: die Kritik eines iranischen Films, der beim Festival in Venedig einen Preis gewonnen hat; die Folgen des Hurrikans in Florida; eine Diskussion darüber, ob es möglich sein sollte, dass Frauen Führungspositionen einnehmen, und ob sich das Wort „rajol“ auf Politiker im Allgemeinen oder nur auf die männlichen bezieht; der Zehnmilliardenkredit Chinas an fünf iranische Banken und schließlich die ewige, stets wiederkehrende Drohung, das Damoklesschwert seit fast 40 Jahren: die Möglichkeit eines US-amerikanischen Angriffs …

Der Daily Telegraph beschuldigt Iran, Nordkorea bei der atomaren Aufrüstung zu helfen. Unwahrscheinlich, sagt sie sich und hofft, dass der Vorwurf nicht zum Vorwand für einen Angriff wird, der ihr jedoch angesichts der Verbündeten Irans und seiner Stellung in der Region unwahrscheinlich erscheint.

Junge Männer gehen an ihr vorbei und diskutieren lautstark über den Sieg im Volleyballspiel gegen Frankreich, einer pfeift ein Lied, das sie leise mitsummt, die Jugendlichen schubsen sie beiseite, ohne sie zu sehen, sie wäre beinahe gestürzt, hält sich aber aufrecht und geht weiter ihren Gedanken nach.

Ein paar Monate nach ihrer Hochzeit im November 1980 musste ihr Mann in den Krieg gegen den Iran ziehen. Bei den ersten zwei, drei Fronturlauben spürte sie noch das Feuer ihrer Liebe, aber dann war es vorbei. Irgendetwas hatte die brennende Leidenschaft abgekühlt und schließlich zerstört, nicht nur bei ihm, auch bei ihr.

Sie war enttäuscht, fühlte sich ungeliebt und nach der aufrichtigen Freundschaft der Anfangszeit in die zweite Reihe verbannt. Er sprach nicht mehr mit ihr, hörte ihr nicht mehr zu, verbrachte die wenigen freien Tage mit seinen Genossen. Aber besonders traurig war sie nicht. Einmal redeten sie darüber und nahmen sich sogar vor, mit einer älteren Genossin zu sprechen und zu versuchen, das erloschene Feuer neu zu entfachen, aber ehe sie dazu kamen, wurde er verhaftet.

Quelle   :    Le Monde diplomatique >>>>> weiterlesen

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Grafikquelle   :    Zur Bundestagswahl 2013 wurden einige Freiwillige von den Parteien akkreditiert, so dass Fotos während des Wahlabends angefertigt werden konnten. 22. September in Berlin

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