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RENTENANGST

Die Clans der Ukraine

Erstellt von Redaktion am Samstag 22. November 2014

Machtverhältnisse in einer Demokratie, die nie existiert hat

von Klaus Müller

Die ukrainische Politik hat im September erneut eine überraschende Wende genommen. Noch vor Kurzem sprach der ukrainische Verteidigungsminister von einem großen Krieg, wie ihn Europa seit 1945 nicht gesehen habe. Und US-Politiker beschrieben die Ukraine als Schauplatz eines Krieges Russlands gegen Europa, der sich jederzeit noch ausweiten könne.

Doch dann folgte Mitte September eine Vereinbarung, die auf einen Kurswechsel hinausläuft, der den Konflikt um die Zukunft der Ukraine entschärfen könnte: Zwar soll der wirtschaftliche Teil des EU-Assoziierungsabkommen am 1. November 2014 in Kraft treten, doch seine volle Implementierung ist auf Ende 2015 verschoben. Ebenso wichtig: Den umkämpften Territorien im Osten wird für drei Jahre eine weitgehende Autonomie gewährt. Das wäre in der Tat ein Ausweg aus der größten innenpolitischen Katastrophe des Landes seit dem Zweiten Weltkrieg, die bereits mehr als 3 500 Tote gefordert und eine Million Ostukrainer aus zerstörten Städten und Dörfern vertrieben hat.

Doch in Kiew kritisieren oppositionelle Stimmen, allen voran Julia Timoschenko, die relative Waffenruhe im Osten des Landes als Kniefall vor Moskau und kündigen eine Verfassungsbeschwerde an. Aktivisten der Maidan-Bewegung sehen die Werte verraten, für die sie protestiert haben; ihre militantesten Vertreter fragen sich, wofür sie fünf Monate lang gekämpft und Opfer gebracht haben. Dmytro Jarosch, der Führer des „Rechten Sektors“, warnt Präsident Poroschenko, es könnte ihm ähnlich ergehen wie seinem Vorgänger Janukowitsch. Und unter den rechten Milizen im Osten wächst die Idee eines Marschs auf Kiew.

Kaum jemand stellte die näherliegende Frage, warum man nicht schon früher zu einem Kompromiss bereit war, etwa in Form des Fahrplans zu einer Verfassungsreform und Neuwahlen, den die Außenminister Frankreichs, Deutschlands und Polens im Februar unter Beteiligung der ukrainischen Opposition ausgehandelt hatten.
Die Entzauberung der Maidan-Revolution schreitet schneller voran als die der Orangen Revolution von 2005. Beide teilen das eigentümliche Schicksal eines Ereignisses von globaler Bedeutung, das gleichwohl an den realen Machtverhältnissen und den politischen Institutionen der Ukraine genauso wenig geändert hat wie an den wirtschaftlichen Strukturen. In ihrem Zerfall, der bereits mit dem Amtsantritt Petro Poroschenkos einsetzte, wird die Maidan-Bewegung als das erkenntlich, was sie schon bei ihrer Entstehung im Spätherbst 2013 war: eine temporäre Koalition höchst unterschiedlich motivierter Protestgruppen. Der gemeinsame Gegner führte soziale Protestbewegungen, nationalistische Kampftrupps und um die Macht rivalisierende Eliten zusammen. Was in der westlichen Öffentlichkeit als Kampf europäischer Werte gegen einen wiederauferstandenen russischen Imperialismus porträtiert wurde, verdeckte in Wahrheit die höchst unterschiedlichen Interessen jeder dieser Gruppierungen.

Die ursprünglichen Motive für den Protest der ukrainischen Bevölkerung gehen aus einer im Dezember 2013 veröffentlichten landesweiten Umfrage der International Foundation for Electoral Systems (Ifes) hervor.  Demnach handelte es sich in erster Linie um einen Überlebenskampf in einer heillos defekten Demokratie. Als die brennendsten Probleme wurden Inflation, Armut und Arbeitslosigkeit genannt, gefolgt von Korruption und einem maroden Gesundheitswesen. 74 Prozent der Befragten hatten kein Vertrauen zu den politischen Institutionen, am wenigsten zu dem von Korruption durchsetzten Parlament und zur Regierung, letztlich also zur gesamten politischen Klasse. Zwei Drittel misstrauten dem noch amtierenden Präsidenten Wiktor Janukowitsch, aber ebenso Oppositionellen wie Julia Timoschenko und Arsenij Jazenjuk und vor allem Oleh Tjahnybok, dem Chef der nationalistischen Swoboda-Partei.

Als zentrales Problem sahen die Befragten die Funktionsweise der ukrainischen Demokratie als solcher. In diesem Sinne trifft es zu, dass die Mehrheit der Maidan-Demonstranten auf einen radikalen Wandel aus war und sich nicht mit dem Rücktritt von Janukowitsch begnügte. Verstärkt und erweitert wurden diese Motive durch die Eskalation der Gewalt auf dem Maidan und die Repression des Regimes.

Die von USAID finanzierte Studie zeigt aber auch, dass zu den Motiven, die die Kiewer Bevölkerung auf die Straße trieben, keinesfalls irgendwelche geopolitischen Strategien gehörten. Ende 2013 sahen lediglich 14 Prozent im Verhältnis zu Russland und nur 4 Prozent im möglichen Beitritt zur Eurasischen Union ein Problem. 34 Prozent bevorzugten engere Wirtschaftsbeziehungen mit Russland, 35 Prozent mit der EU, während 17 Prozent hierin keinen Gegensatz erkannten.

Quelle: Le Monde diplomatique >>>>> weiterlesen

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Fotoquelle: Wikipedia – Author PositiveSky

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