DEMOKRATISCH – LINKS

                      KRITISCHE INTERNET-ZEITUNG

RENTENANGST

Die Artenvielfalt stirbt

Erstellt von Redaktion am Dienstag 26. November 2019

Die Artenvielfalt stirbt – und wir schauen zu

2014 Borneo Luyten-De-Hauwere-Bornean orangutan-06.jpg

von Tanja Busse

Wir befinden uns mitten im sechsten großen Artensterben der Erdgeschichte.[1] Das erste liegt etwa 500 Mio. Jahre zurück: Damals brachen so viele Vulkane aus, dass sich die Zusammensetzung der Meere und der Atmosphäre stark veränderte und in der Folge viele Arten ausstarben. Vor 443 Mio. Jahren driftete dann der Urkontinent Gondwana nach Süden und die Erde kühlte sich ab. Dabei starben vermutlich mehr als 85 Prozent aller Meeresbewohner. Als größtes Massenaussterben aller Zeiten aber gilt der Übergang vom Erdaltertum zum Erdmittelalter etwa zweihundert Mio. Jahre später, bei dem nach gigantischen Vulkanausbrüchen in Sibirien beinahe alles Leben weltweit vernichtet wurde. Das große Sterben zog sich damals mindestens über Tausende von Jahren hin. Erdgeschichtlich gesehen war das ein recht schnelles Aussterben in kurzer Zeit, aber im Vergleich zu dem, was heute passiert, war es slow motion.

Bis vor etwa 200 Jahren wussten die Naturforscher nicht einmal, dass Arten aussterben können. Sie konnten es sich nicht vorstellen, weil es die Idee des Aussterbens einfach nicht gab. In der Zeit vor Darwin hatte jedes Lebewesen seinen Platz in einer immerwährenden göttlichen Ordnung – obwohl damals längst Knochen von ausgestorbenen Tieren entdeckt worden waren. Erst der Naturforscher Georges Cuvier hatte – bei der Betrachtung des Backenzahns eines Mastodons – einen Aha-Moment, der ihn zu der Erkenntnis brachte, dass es früher Tierarten gegeben haben musste, die es jetzt offenbar nicht mehr gab. Dass diese Arten also ausgestorben sein mussten. Er entdeckte, dass das Leben selbst eine Geschichte hat.[2] Das war ein Gedanke, der bis dahin undenkbar gewesen war. Was wir uns heute wiederum kaum mehr vorstellen können, weil es für uns so offensichtlich ist. Keiner, der im Berliner Naturkundemuseum unter dem riesigen Brachiosaurierskelett entlangspaziert ist, könnte noch bezweifeln, dass Arten aussterben können. Doch früher war das eine disruptive Information, und viele Wissenschaftler verweigerten sich dem neuen Paradigma. Vielleicht werden sich die Menschen in 200 Jahren nicht vorstellen können, dass wir Menschen des frühen 21. Jahrhundert so blind vor der globalen Bedrohung standen wie einst Cuviers Zeitgenossen vor den Mammutknochen?

Heute wissen wir, dass das Aussterben von Arten etwas völlig Normales ist, Evolution eben. Die Wissenschaftler bezeichnen das gewöhnliche Entstehen und Vergehen von Arten in Zeiten ohne kosmische oder geologische Katastrophen als Hintergrundrate. Bei Säugetieren nimmt man an, dass etwa zwei von zehntausend Arten pro Jahrhundert aussterben.

Der mexikanische Biologe Gerardo Ceballos und seine Kollegen haben diese Rate mit den in den letzten Jahrhunderten ausgestorben Säugetierarten verglichen (ohne die vielen gefährdeten und vom Aussterben bedrohten mitzurechnen) und sie sind zu dem beunruhigenden Schluss gekommen, dass die aktuelle Aussterberate bis zu hundert Mal höher als die Hintergrundrate liegt. Andere Forscher gehen vom Tausendfachen aus. In Zukunft könnte die Aussterberate sogar zehntausend Mal so hoch sein.[3] Doch selbst Ceballos vorsichtige Schätzungen lassen nur einen Schluss zu: nämlich, dass wir uns tatsächlich mitten im sechsten Massenaussterben der Erdgeschichte befinden.[4]

Die Menschheit hat versagt

Das ist eine ungeheure Erkenntnis, die jahrelang ungeheuer gelassen aufgenommen wurde. Außer ein paar Wissenschaftlern und Naturschützern hat diese Tatsache die Medien und die Menschen viel zu lange kaum interessiert. Erst als der Weltbiodiversitätsrat IPBES im Mai 2019 die ungeheure Zahl von einer Million bedrohter Arten verkündete, machte das Massensterben Schlagzeilen auf den Titelseiten.

So weit der Blick reicht: Bild Mitte – Palmölplantagen.

Dabei schreien die Forscher ihre Erkenntnisse schon sehr lang sehr laut in die Welt hinaus. 1992 veröffentlichte der Physik-Nobelpreisträger Henry Kendall eine Warnung an die Menschheit, der sich 1700 Wissenschaftler, darunter viele Nobelpreisträger anschlossen: Die Menschheit befinde sich auf Kollisionskurs mit der Natur. Von den vielen Zerstörungen natürlicher Ressourcen sei der irreversible Verlust der Arten besonders ernst zu nehmen, schrieben Kendall und seine Kollegen vor einem Vierteljahrhundert. Kendall war Mitbegründer der Union of Concerned Scientists, der Vereinigung besorgter Wissenschaftler, die sich nicht damit begnügen, Entscheidungsträgern Forschungsergebnisse auf den Tisch zu legen. Sie fordern vielmehr science-based action, also politisches Handeln, das aus der Arbeit der Wissenschaftler die richtigen Schlüsse zieht – zur Rettung der Menschheit. Kendall ist 1999 gestorben, er hat nicht erleben müssen, dass die US-Amerikaner 2016 einen Präsidenten gewählt haben, der alle wissenschaftliche Evidenz ignoriert und selbst ausgedachte „alternative Fakten“ an ihre Stelle setzt. 2017 wiederholten Kendalls Nachfolger seine Warnung, und dieses Mal unterschrieben mehr als 15 000 Wissenschaftler aus der ganzen Welt. In „Warning to humanity, a second notice“bringen sie die Entwicklung seit 1992 auf den Punkt: Mit Ausnahme des Lochs in der Ozonschicht ist kein Problem gelöst worden, im Gegenteil. „Humanity has failed“, schreibt das Autorenteam um den Ökologen William J. Ripple. Die Menschheit hat versagt. Sie hat nicht genug unternommen, um den möglicherweise katastrophalen Klimawandel zu bremsen. Und darüber hinaus hat sie ein Massenaussterben entfesselt – das sechste in 540 Mrd. Jahren – das bis zum Ende dieses Jahrhunderts viele der gegenwärtigen Lebensformen auslöschen könnte.[5]

Fatale Apokalypseblindheit

Der Philosoph Günther Anders, der Ex-Mann von Hannah Arendt, hat über die Haltung vieler Menschen in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüber der atomaren Bedrohung geschrieben und sie als Apokalypseblindheit bezeichnet. Mit der Erfindung von Atombomben hat sich die Menschheit als Ganze in die Lage gebracht, sich mit ihren eigenen Waffen selbst auslöschen zu können. Und die ganze Welt, wie wir sie kennen, gleich mit. Eine entsetzliche Erkenntnis, offenbar zu entsetzlich, um sich damit auseinanderzusetzen. Was bliebe übrig, wenn die Bombe eingesetzt würde? „Ein Trümmerfeld, unter dem alles, was Geschichte einmal gewesen, begraben läge. Und wenn der Mensch doch überlebte, dann nicht als geschichtliches Wesen, sondern als ein erbärmlicher Überrest: als verseuchte Natur in verseuchter Natur.“ So habe Albert Einstein die Lage beurteilt, schreibt Günther Anders und er ergänzt: „Und wir lesen es in den Zeitungen. Und wie reagieren wir darauf? Eben so, wie wir auf Zeitungsnachrichten reagieren: gar nicht.“[6]

Warum aber ist das so, warum wiederholt sich die Blindheit gegenüber den nuklearen Gefahren heute gegenüber dem Artensterben? Günther Anders glaubte, dass die Gefahr zu groß sei für unser Vorstellungsvermögen. Dass wir unseren eigenen Produkten und deren Folgen phantasie- und gefühlsmäßig nicht gewachsen seien. Anfang der fünfziger Jahre hat der Philosoph das geschrieben. Ein Vierteljahrhundert später, 1979, ergänzte Anders: „Die drei Hauptthesen: dass wir der Perfektion unserer Produkte nicht gewachsen sind; dass wir mehr herstellen als vorstellen und verantworten können: und dass wir glauben, das, was wir können, auch zu dürfen, nein: zu sollen, nein: zu müssen – diese drei Grundthesen sind angesichts der im letzten Vierteljahrhundert offenbar gewordenen Umweltgefahren leider aktueller und brisanter als damals.“[7]

Die chillige Ruhe, mit der wir bis vor Kurzem die länger werdenden Roten Listen ignoriert haben, gibt Günther Anders ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod noch einmal Recht. Die Gelbbauchunke verschwindet? Der Feldhamster? Der Schierlingswasserfenchel? Schade, aber auch nicht sooo schlimm, also für uns nicht, wir Menschen sterben ja nicht aus, wir werden ja immer mehr und es geht uns immer besser. Diese Alltagserfahrung hat uns lange Zeit apokalypseblind gemacht. Dass das stille Verschwinden der possierlichen kleinen Tierchen um uns herum Teil eines globalen Massenaussterbens sein könnte, das auch das Leben der Menschen bedrohen wird, haben wir lange Zeit einfach nicht verstanden. Das übersteigt, hätte Günther Anders gesagt, unser Vorstellungsvermögen, dazu waren wir zu apokalypseblind, nein: dazu wurden wir zu lange apokalypseblind gemacht.

Es verschwinden nicht nur die Bienen

Doch immerhin, das ändert sich, seit die Krefelder Studie über das große Insektensterben ein weltweites Medienecho ausgelöst hat.[8] Die Krefelder Entomologen haben einen Nerv getroffen. Sie haben uns aus einem Schlaf gerissen und aufgeweckt.

So standen im Februar 2019 Millionen Bayern bei Regen und Kälte vor den Rathäusern Schlange, um für das Volksbegehren Artenvielfalt zu unterzeichnen. Und die Warnung des Weltbiodiversitätsrates, des IPBES – eine Million Arten vom Aussterben bedroht! – hat es in die Nachrichten und auf die Titelseiten der großen Zeitungen gebracht. Dass gehandelt werden muss, steht jetzt im Raum. Immerhin. Doch gleichzeitig ist die Diskussion auf merkwürdige Weise auf Insekten und vor allem auf Bienen beschränkt geblieben. Dieser enge Fokus könnte zu falschen Entwarnungen verleiten, fürchtet der Entomologe Udo Heimbach, weil wir über die Gefährdung vieler anderer Arten so viel weniger wissen.

Seit 2017 wird sehr viel über Blühstreifen als Beitrag zum Insektenschutz geredet, als könnte man mit einer schmalen bunten Blumenzierde um Äcker und Betonwüsten unsere lebensvernichtende Landnutzung umkehren. Ökologen wie Thomas Fartmann halten nicht viel von solchen Blühstreifen, vor allem nicht im konventionellen Ackerbau, weil sie die verbliebenen Insekten an die Ränder von Feldern mit gefährlicher Ackerchemie locken: Ökologische Falle nennt man das.

Viele Landwirte haben solche Streifen angelegt, weil sie beunruhigt waren über die Funde der Entomologen und selbst etwas gegen das Verschwinden der Insekten tun wollen. Die Kritik der Ökologen hat sie deshalb getroffen. Denn natürlich sind blühende Ackerränder besser als gar keine Ränder. Und die Blühstreifen haben noch einen großen Wert, den Ökologen vielleicht nicht erkennen: In der landwirtschaftlichen Ausbildung spielt Biodiversität so gut wie keine Rolle. Für die viele Landwirte sind die Blüten am Ackerrand ein erster Schritt zu Naturschutz auf den eigenen Flächen. So kann man die einjährigen Blühstreifen entlang der Agrar- oder Betonwüsten als Versuch interpretieren, das business as usual weiterzuführen wie bisher, nur eben mit kleinen Korrekturen, etwas verziert sozusagen, als Zeichen für die trügerische Hoffnung, dass ein paar Sommerblüten am Feldrand reichen werden, um die Insekten in ihrer ganzen Vielfalt wieder aufzupäppeln. Aber man kann sie auch als Zeichen deuten, dass viele Landwirte bereit sind für eine andere, vielfältigere Landwirtschaft. Blühstreifen sind nicht genug, aber sie sind die Symbole eines Aufbruchs auf dem Land.

Biodiversität ist eine Überlebensfrage für die Menschheit

Quelle          :      Blätter           >>>>>            weiterlesen

—————————————————————-

Grafikquellen      :

Oben             —       Bornean Orangutan (Pongo_pygmaeus)

—————————–

2.)       von Oben       —      Zerstörung des Regenwaldes

—————————————

Unten         —         Protest gegen Neonicotinoide auf der Demonstration Wir haben es satt! 2013.

Kommentar schreiben

XHTML: Sie können diese Tags benutzen: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>