Merkel in der guten Rolle
Erstellt von Redaktion am Donnerstag 7. April 2016
Die andere Hälfte der Wahrheit
von Bernd Stegemann
Die deutsche Flüchtlingspolitik macht es wie Brechts Schauspiel vom guten Menschen: Angela Merkel ist humanitär, während andere die Rolle der Bösen spielen müssen.
Seit dem Sommer 2015 erlebt Europa das dritte große Projekt „Alternativlosigkeit“, das von der deutschen Regierung ausgeht. Bei den ersten beiden, dem Bankenrettungsschirm und der Euro-Rettung, wurden alle Volkswirtschaften auf die Regeln deutscher Sparpolitik festgezurrt, und beide Male war der Druck, den die deutsche Regierung auf die anderen Europäer ausübte, gewaltig. Die Drohungen reichten von einem Ende der Währung bis zu einem Ausschluss schwächerer Volkswirtschaften. Das dritte Projekt „Alternativlosigkeit“ beschreitet den deutschen Sonderweg in einer besonders komplexen Form. Der Musterschüler des Neoliberalismus verlangt nun von seinen Nachbarn eine tugendhafte Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen.
Was im Herbst 2015 als Ausnahme begann und von der internationalen Öffentlichkeit zu Recht als humanitär vorbildliches Verhalten gelobt wurde, hat inzwischen, da es nicht Ausnahme, sondern Regel wurde, mehrere Veränderungen durchlaufen. Die erste Verdrehung stellte sich gleich am Anfang dadurch ein, dass die Zahl der Flüchtlinge als Naturereignis und nicht als Menge von einzelnen Individuen verstanden wurde. Die Aufnahme der in Ungarn gestrandeten Menschen im Herbst 2015 wurde so fälschlicherweise als eine einmalige Entlastung dargestellt. Aber wenn Menschen als eine naturhafte Masse angesehen werden, wird ihnen die Menschlichkeit abgesprochen. Man ignoriert ihre Fähigkeit zur rationalen Entscheidung. Die gut gemeinte Willkommenskultur ist blind für das Signal, das sie an alle aussendet, die heimatlos und ohne Hoffnung sind, in eines der reichen Länder Europas einreisen zu dürfen. Oder wie es eine UN-Kommissarin für Flüchtlingsfragen schon im Winter 2015 auf den Punkt brachte: Die Flüchtlinge aufzunehmen war eine große Leistung, doch diese zugleich in die Welt hinauszuposaunen, weckte weltweit Hoffnungen, die niemand erfüllen kann.
Schon an diesem Punkt der Erzählung fällt einem das Drama von Bertolt Brecht ein: Der gute Mensch von Sezuan. Nachdem Shen Te von den Göttern eine große Summe Geldes bekommen hat, um Gutes tun zu können, eröffnet sie einen Tabakladen. Da die armen Menschen in ihrer Stadt von ihrer Güte wissen, ist der Laden innerhalb eines Tages von den Bedürftigen überrannt und droht bankrott zu gehen. Um gut bleiben zu können, erfindet Shen Te einen Vetter Shui Ta, der mit genug Gefühlskälte ausgestattet ist. Er bringt den Laden auf Vordermann, indem er die üblichen Mittel von Konkurrenz und Ausbeutung anwendet. Die Parabel endet mit der Schwangerschaft von Shen Te und einem Gerichtsprozess gegen Shui Ta, der beschuldigt wird, die gute Shen Te umgebracht zu haben. Shui Ta kann vor Gericht leicht beweisen, dass er beide Identitäten in einem umfasst. Die schlimmen Verhältnisse haben ihn dazu gezwungen, sich aufzuspalten. Die Erkenntnis ist so einfach wie realistisch: Wer in einer schlechten Welt gut sein will, braucht die Hilfe eines schlechten Menschen. Das Einzige, was diesen Widerspruch aufheben könnte, wäre nicht individuelle Güte, sondern eine Revolution der schlechten Wirklichkeit.
Fotoquelle – Wikipedia : CC-BY-SA 4.0
Author | Elekes Andor |
Erstellt am Donnerstag 7. April 2016 um 10:37 und abgelegt unter Flucht und Zuwanderung, International, Regierung. Kommentare zu diesen Eintrag im RSS 2.0 Feed. Sie können zum Ende springen und ein Kommentar hinterlassen. Pingen ist im Augenblick nicht erlaubt.