Die Ära der Kanzlerin endet
Erstellt von Redaktion am Sonntag 15. August 2021
Sechs Mythen über Merkel
Kein Doppel – sondern SECHSFACH LEBEN !
Von Ulrich Schulte, Stefan Reinecke, Susanne Schwarz, Sabine am Orde, Ulrike Herrmann und Jasmin Kalarickal.
Angela Merkel tritt nach der Bundestagswahl als Kanzlerin ab. Doch vieles, was wir über sie zu wissen glaubten, stimmt nicht. Sie war die Krisenkanzlerin, die Männerkillerin, die Flüchtlingsfreundin. die Klimaretterin, die Modernisiererin, die Sozialdemokratin ?
Die Flüchtlingsfreundin
Rechte Wutbürger verachten Angela Merkel als Flüchtlingskanzlerin. Die AfD macht sie für den Untergang des Abendlands verantwortlich. Ein Pegida-Anhänger trug auf einer Demo einen selbst gebastelten Galgen für sie durch die Gegend, sie wurde vor Flüchtlingsheimen unflätig beschimpft. Aber die These von der Schutzheiligen der AsylbewerberInnen ist ein Zerrbild, das bis heute von Merkels GegnerInnen – auch denen in der CDU – instrumentalisiert wird.
Da wäre zum Beispiel der beliebte Mythos, Merkel habe 2015 die Grenzen „geöffnet“. Das ist nachweislich Unfug. Als Hunderttausende Geflüchtete über die Balkanroute nach Deutschland kamen, waren die innereuropäischen Grenzen offen, so wie es im Schengenraum üblich ist. Merkel musste also nichts öffnen. Dennoch war ihre Entscheidung ein humanitäres Highlight.
Eine kurze Rückblende: Im August 2015 saßen Geflüchtete aus Syrien und dem Irak in Ungarn fest – und machten sich über die Autobahn zu Fuß auf den Weg nach Deutschland. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán ließ sie mit Bussen an die österreichische Grenze transportieren, auch, um die EU unter Druck zu setzen. Merkel entschied – nach Telefonaten mit dem österreichischen Kanzler Werner Faymann – die verzweifelten Menschen aufzunehmen, obwohl ihr leitende Beamte rieten, die Grenze dicht zu machen.
Dabei spielten nicht nur humanitäre, sondern auch taktische Überlegungen eine Rolle. Im Kanzleramt glaubte man damals, dass man der Bevölkerung brutale TV-Bilder von der Grenze nicht zumuten konnte. Deutsche Grenzer hätten ja Familien mit Tränengas oder Schlagstöcken zurücktreiben müssen. Außerdem ließe sich eine lange grüne Grenze sowieso nicht effektiv dicht machen, lautete ein zweites Argument von Merkels Leuten.
Merkels Move verschaffte ihr große Credibility in linksliberalen Milieus. Ihre Popularitätswerte bei Grünen-WählerInnen schossen nach oben, die taz druckte Herzchen für Merkel auf ihre Titelseite. Von diesem Image profitiert sie links der Mitte bis heute, während sie deshalb bei Rechten verhasst ist. Mit der Wirklichkeit hat beides wenig zu tun, denn Merkel schaltete 2015 schnell auf einen rigiden Kurs um.
Der Zuzug, so das neue Credo, muss enden. Dabei setzte sie auf drei Strategien: Angrenzende Länder sollten ihren Grenzschutz verbessern und die Balkanroute schließen. Ein im März 2016 vereinbartes Abkommen der EU mit der Türkei stoppte die Migration übers Mittelmeer nach Griechenland. Außerdem verschärfte Merkels Groko das Asylrecht, um Menschen schneller abschieben zu können. Sie erklärte die Balkanstaaten zu sicheren Herkunftsstaaten, beschleunigte Asylverfahren und schaffte Geldleistungen für AsylbewerberInnen ab.
Ebenfalls legendär ist Merkels Rhetorik im Jahr 2015. Ende August sagte sie ihren berühmten Satz „Wir schaffen das“, den die einen als Aufmunterung, die anderen als Zumutung verstanden. Wenig später, im September, ließ sie sich zu einem ihrer seltenen Gefühlsausbrüche hinreißen. Wenn man sich dafür entschuldigen müsse, in Notsituationen ein freundliches Gesicht zu zeigen, „dann ist das nicht mein Land“, sagte sie. Das war für eine Bundeskanzlerin, die qua Amt immer für das Land zuständig ist, dann doch bemerkenswert.
Merkel war unübersehbar angefasst, weil ihre Politik so harsche Kritik hervorrief. Auch diese Rhetorik sorgte dafür, dass der rasche Kurswechsel der Kanzlerin unter dem Radar blieb. Um Humanität ging schon kurz nach der leuchtenden Geste nicht mehr, sondern um kühlen Pragmatismus.
Der Mythos von der Flüchtlingskanzlerin hielt sich wohl auch deshalb so lange, weil er Merkels GegnerInnen so wunderbar in den Kram passte – und sie alles taten, um ihn am Leben zu erhalten.
Ulrich Schulte
Die Konkurrentenkillerin
Einige westdeutsche CDU-Männer haben es bis heute nicht verwunden, dass sie den Platz ganz oben an eine Frau aus dem Osten verloren haben. Friedrich Merz zum Beispiel glaubte eine Art natürliches Anrecht auf die Führung der Partei, der Fraktion und der Republik zu besitzen. Deshalb ist er bis heute fassungslos, dass Angela Merkel ihn am Ende besiegte.
In der Politik gibt es doch nur Freund-Innen !
Zu Beginn der Nuller Jahre bildeten Friedrich Merz und Roland Koch, Christian Wulff und Günther Oettinger eine klandestine CDU-Seilschaft, den Andenpakt, der absichern sollte, dass sie das Sagen in der Partei haben. Dass sich Merkel gegen sie durchsetzen würde, war eher unwahrscheinlich. Merkel war dabei noch nicht mal besonders raffiniert oder gewieft. Aber sie verfügte über einen scharfen Blick, was ging und was nicht. Das hatte sie den Andenpakt-Boys voraus, die zu Hybris und Selbstüberschätzung neigten.
Das Bild der „Parteivorsitzenden mit dem Killerinstinkt“, so AFP 2002, war in der Welt, nachdem Merkel Merz von seinem Posten als Fraktionschef verdrängt hatte. Allerdings verdankte sich dies nicht nur Merkels Geschick, sondern auch Zufällen. Der Andenpakt wollte damals unbedingt Merkel als Kanzlerkandidatin verhindern. Als Merkel begriff, dass ihre Gegner übermächtig waren, fuhr sie zu Stoiber, um dem CSU-Mann in Wolfratshausen wenigstens eigenhändig die Kanzlerkandidatur anzutragen. Der Deal war: Stoiber würde Kanzler, Merz Finanzminister, Merkel wollte nach dem Wahlsieg Fraktionschefin werden.
Es kam anders. Rot-Grün gewann knapp die Wahl. Merkel tat danach nichts anderes, als auf dem Wolfratshausener Deal zu beharren. Merz sah sich als Opfer einer Intrige. Aber so war es nicht. „Mit der Wahlniederlage hatte sich die Faktengrundlage für die Postenverteilung geändert“, schreibt Merkels Biograf Ralph Bollmann zu recht. Dass Merz dies nicht verstand, zeigte, dass er „in eklatantem Maße die politischen Grundrechenarten“ nicht beherrschte. Anders als Merkel.
Der CSU-Politiker Michael Glos schrieb 2004 zu Merkels 50. Geburtstag: „Eines der Geheimnisse des Erfolges von Angela Merkel ist ihr geschickter Umgang mit eitlen Männern. Sie weiß: Auerhähne schießt man am besten beim Balzen. Angela Merkel ist die geduldige Jägerin der balzenden Auerhähne. Mit engelsgleicher Langmut wartet sie, bis sie am Zuge ist.“ Auch in diesem als Lob gemeinten Bild erscheint Merkel als Jägerin, die Männer zur Strecke bringt. Der Spiegel verglich Merkel 2009 mit einer schwarzen Witwe, die sich kaltherzig ihrer politischen Partner entledigt, wenn die ihre Funktion erfüllt hatten.
Merkel als durchtriebene, machtfixierte Killerin, die kalt (Männer-)Karrieren beendete: Das ist ein Zerrbild. Merkel hat keine Männer gemobbt – und nur einmal einen CDU-Mann vor die Tür gesetzt. Das geschah 2012. Umweltminister Norbert Röttgen hatte für die CDU die Wahl in NRW desaströs verloren, war geschwächt und zudem unwillig zu verstehen, dass er mitschuld an der Niederlage war. Merkel glaubte nach Fukushima einen starken Umweltminister zu brauchen. Röttgen zu feuern war nicht zwingend, aber verständlich.
Ist es eine kühne Vermutung, dass der Rauswurf von Röttgen bei einem Mann eher als Tatkraft gepriesen worden wäre? Dass die Art, wie Merkel 2002 Stoiber auf ihre Seite zog und am Ende Merz loswurde, bei einem Mann als Führungsstärke gegolten hätte? Den Erfolg einer mächtigen Frau kann man sich indes offenbar nur mit dämonischen Bildern erklären: die Jägerin, die Killerin, die schwarze Witwe, die ihre Partner ermordet.
In diesen Bildern klingt nicht nur das Motiv moralischer Fragwürdigkeit an, Merkel wird auch als Gegnerin gezeichnet, die mit illegitimen Waffen kämpft. Es ist ein Versuch, Unerklärliches zu erklären – nämlich, dass eine Ostdeutsche länger als eineinhalb Jahrzehnte die natürliche Machthierarchie der Union außer Kraft gesetzt hat.
So redet, wer verloren hat und noch immer rätselt, wie das passieren konnte. Das Bild der eiskalten Machtpolitikerin sagt wenig über Merkel. Aber viel über die Kränkungen ihrer Gegner.
Stefan Reinecke
Die Klimaretterin
Rote Funktionsjacken, weiße Arktis. 2007 begutachteten die Kanzlerin und ihr Umweltminister Sigmar Gabriel (SPD) die Auswirkungen des Klimawandels in Grönland. Die Kameras waren ihnen massenhaft gefolgt und lieferten Bilder zum Dahinschmelzen. Es passt aber auch zu gut: die Physikerin im Kanzleramt, die ganz genau weiß, welches menschliche Drama sich in der Atmosphäre abspielt. Doch das Eis, auf dem Merkels Ruf als Klimakanzlerin aufgebaut ist, ist genauso dünn wie das in der Arktis.
Tatsächlich hat Merkel während ihrer politischen Karriere immer wieder bewiesen, dass sie das Problem versteht – und das Nötige trotzdem nicht tut. Sie ließ ihre Minister:innen auch gegen den Klimaschutz schalten und walten. Sie selbst brillierte zwar bei Auftritten auf den internationalen Bühnen der Klimaverhandlungen, blockierte aber zum Beispiel in Brüssel ehrgeizige CO2-Grenzwerte für Autos.
Auch der Niedergang der deutschen Solarindustrie fällt in Merkels Amtszeiten. 80.000 Arbeitsplätze brachen weg, während jegliche Diskussion über einen Kohleausstieg lange mit dem Verweis auf die rund 20.000 Arbeitsplätze abgewürgt wurde.
Klimawechsel – mein Job – lange studiert – aber nichts gelernt – es schneit
Das Kohle-Aus, das dann im vergangenen Jahr doch noch beschlossen wurde, kommt mit 2038 zu spät – und ist eine feige Entscheidung. Es ist absehbar, dass die Kohleverstromung durch den Europäischen Emissionshandel schon früher unrentabel wird. Eine klimaschädliche Technologie erst dann zu verbieten, wenn die Wirtschaft vielleicht schon zehn Jahre gar kein Interesse mehr daran hat, das zeugt nicht gerade von Mut. Zumal die Energiekonzerne auch noch großzügige Entschädigungen erhalten. Und was ist eigentlich mit dem Gasausstieg? Mit der Abkehr vom Verbrennungsmotor? Mit der nachhaltigen Landwirtschaft? Weitgehend Fehlanzeige.
Immer wieder hieß es sogar von der Bundesregierung selbst: Das Klimaziel für 2020, nämlich 40 Prozent weniger CO2 gegenüber 1990, werde Deutschland nicht erreichen. Dass es nun doch gerade so geklappt hat, lag zuletzt auch an den Coronalockdowns, die den Energieverbrauch der Wirtschaft zeitweise gesenkt hatten.
Statt der großen Transformation gab es unter Merkel einen Politikstil der halben Sachen. Beispiel CO2-Preis: Seit Anfang des Jahres fällt der in Deutschland beim Heizen und Tanken mit Öl und Gas an, denn diese Bereiche werden vom Europäischen Emissionshandel nicht abgedeckt. Der Startpreis liegt bei der Hälfte von dem, was Expert:innen als Mindestmaß empfohlen hatten, wenn das Ganze auch eine Wirkung zeigen soll. Auch die Chance, die Einnahmen für eine progressive Umverteilung zu nutzen, hat die Bundesregierung nicht ergriffen. So trifft der Preis Menschen mit wenig Geld besonders stark.
„Umweltpolitik ist eine spannende Angelegenheit, wo die Leute oft sagen: Ach, heute noch nicht“, sagte Merkel einmal in der „NDR Talk Show“, das war 1997, sie war noch Umweltministerin unter Helmut Kohl. „Da die Überzeugung zu machen und zu sagen: Passt auf, wenn ihr’s heute nicht macht, wird’s euren Kindern und Enkelkindern doppelt, dreifach teurer, das find ich schon eine sehr, sehr lohnende Aufgabe.“
Ja, sie versteht es! Merkel vollzog im Grunde damals selbst die Argumentation, mit der das Bundesverfassungsgericht 24 Jahre später ihre Klimapolitik in der Luft zerrissen hat. Es kassierte das Klimaschutzgesetz teilweise, weil die nur bis 2030 geplanten Maßnahmen die Verantwortung auf die jüngere Generation verschöbe und deren Freiheit zu stark einschränke. Die Regierung besserte schnell nach – zumindest bei den Zielen. Wie die erreicht werden sollen, ist in vielerlei Hinsicht noch offen.
Außerdem: Geht man davon aus, dass jeder Mensch auf der Erde denselben Anteil am verbleibenden CO2-Budget der Welt haben sollte und die Erderhitzung bei 1,5 Grad gegenüber vorindustriellen Zeiten aufhören soll, dann müsste Deutschland seine CO2-Emissionen bis spätestens zum Ende des Jahrzehnts linear auf null senken. Dahinter bleiben auch die neuen Ziele zurück. Anders gesagt: Die Merkel-Regierungen hinterlassen einen ökologischen Schuldenberg.
Susanne Schwarz
Die Modernisiererin
Quelle : TAZ-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquelle :
Oben — Plakat „Doppelleben – Der Film“
Author | DWolfsperger / Source : Own work / Date — 01. 08. 2012 |
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2-) von Oben — Secretary of Defense Ash Carter is speaks with German Defense Minister Ursula von der Leyen and Atlantik-B. Chairman Friedrich Merz as he arrives at the Allianz Forum in Berlin, Germany, as part of a European trip June 22, 2015. Secretary Carter is traveling in Europe to hold bilateral and multilateral meetings with European defense ministers and to participate in his first NATO ministerial as Secretary of Defense. (Photo by Master Sgt. Adrian Cadiz/Released)