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RENTENANGST

Der verlorene Sohn

Erstellt von Redaktion am Freitag 19. Januar 2018

Folgen des ausgesetzten Familiennachzugs

Die Suche über das Meer oder nach dem Mehr?

Von Gesa Steeger

Im November 2015 kentert ein Boot mit 28 Menschen vor der griechischen Insel Chios. Seitdem sucht Familie Othman ihr Kind.

HANNOVER / CHIOS taz | Ende Oktober 2017, zwei Jahre nach dem Unglück, sitzt Kazem Othman in seinem Wohnzimmer im Süden Hannovers auf einem schwarzen Schreibtischstuhl und ruft nach seinem Sohn: „Alnd, Alnd, wo bist du?“ Othmans Füße sind nackt, das blaue Hemd spannt sich über seinem breiten Oberkörper. Die Schultern nach vorn gefallen, die Haare grau, der Rücken gebeugt, die Ellenbogen auf den Knien. Ein Mensch im Sturz.

Kazem Othman ist 49 Jahre alt, doch er sieht älter aus. In seinen Händen liegt ein schwarzes Smartphone. Othman wischt sich durch Videos und Fotos von Alnd. Ein kleiner Junge mit dem ovalen Gesicht seiner Mutter schaut hoch zu seinem Vater. Seine Ohren stehen etwas ab. Alnd beim Schwimmen. Alnd, wie er in die Kamera lächelt. Alnd, wie er Oud spielt, eine orientalische Laute. Neben Kazem Othman hockt seine Frau Pervin, 43, auf einer Matratze, das schwarze Haar nachlässig mit einem Kopftuch bedeckt. Ihr Blick geht ins Leere. „Ich träume viel von Alnd“, sagt sie. Auf ihrem Schoß zappelt Baby Hedi, acht Monate alt. „Alnd, wo bist du?“ Keine Antworten. Nur Stillstand.

In der Nacht zum 11. November 2015 steigen 28 Menschen an der westtürkischen Küste von Izmir in ein kleines weißes Fischerboot. Kinder, Frauen, Männer aus Syrien und dem Irak. Der jüngste Passagier ist noch kein Jahr alt, der älteste 75. Ihr Ziel, die griechische Insel Chios, ist nur etwa acht Kilometer entfernt. Das Wetter ist mild, und das Meer still. Die Lichter der Insel blinken hinüber. Gelbe Sterne im schwarzen Meer.

Gegen 3 Uhr stößt der Schleuser das Boot vom Strand und startet den Motor. An Bord sitzt Pervin Othman zwischen ihren Kindern. Sahin, 11 Jahre alt, Gudi 9 Jahre alt. Ihren jüngsten Sohn Alnd hält sie im Arm. Ihr Schwager mit Frau und zwei Kindern ist ebenfalls an Bord. Gegen 3.15 Uhr läuft Wasser ins Boot. Der Mann am Steuer versucht zu wenden. Als der Motor ausfällt, gibt er auf. „Schau nach vorn“, flüstert Pervin Othman ihrem Jüngsten ins Ohr. Das Boot kippt. Pervin Othman schluckt Wasser, taucht auf, hört Schreie. Verliert ihr Zeitgefühl. Irgendwann wird sie aus dem Wasser gezogen. Alnd ist weg. So erzählt es Pervin Othman zwei Jahre später auf der Matratze in ihrem Wohnzimmer.

Gegen 4.30 Uhr notiert die türkische Küstenwache: 22 Überlebende, 4 Tote, 2 Vermisste.

Erste Leiche: weiblich, 20 bis 25 Jahre alt, rot gefärbte Haare, blaue Jeans. Liegt mit dem Rücken nach oben im Wasser. Zweite Leiche: Jogginghose mit Blumenmuster, pinke Jacke, pinke Schuhe, 2 bis 3 Jahre alt. Dritte Leiche: grüne Jacke, schwarz-gelbe Handschuhe, 3 bis 4 Jahre alt. Vierte Leiche: weiblich, 55 bis 60 Jahre alt, 100 bis 110 Kilo. Vermisst: Roder Othman, 5 Jahre alt. Blaue Schuhe, schwarze Jacke, und sein Cousin Alnd Othman, 6 Jahre alt. Blaue Jeans, blaues T-Shirt, blaue Schuhe.

Familiennachzug auf dem offenen Meer

Als das Boot untergeht, lebt Kazem Othman in einer Flüchtlingsunterkunft in Magdeburg und wartet auf die Klärung seines Asylstatus, und auf seine Frau, die Kinder und seinen Bruder. Fotos aus der Zeit zeigen einen schmalen, frischen Mann, der in die Kamera lächelt. Wie einer, der weiß: Das Schlimmste liegt hinter mir.

Zwei Monate zuvor war er aufgebrochen, aus Kamischli im Norden Syriens, über die Balkanroute nach Europa. Im Mai 2014 überfiel ein IS-Kommando die Region um Kamischli und tötete 15 Menschen, darunter vermutlich 7 Kinder. So entstand bei den Othmans die Idee von Deutschland. „Wegen der Sicherheit der Kinder“, sagt Kazem Othman. Seine Stimme bricht. Othman spricht ihn nicht aus. Aber dieser Satz ist da: Was wäre wenn? Was wäre, wenn sie nicht geflohen wären? Wenn sie nicht in das Boot gestiegen wären? Dann wäre Alnd vielleicht noch da.

Im November 2015 beschließt die Große Koalition aus Union und SPD, den Familiennachzug für subsidiär Schutzbedürftige auszusetzen. Kazem Othman ist damals noch im Asylverfahren, im Heim gehen Gerüchte um, wessen Familien betroffen sein könnten. Othman bekommt Angst, dass es Pervin und die Kinder vielleicht nicht mehr rechtzeitig nach Deutschland schaffen. Deswegen die Überfahrt.

Gerade stritten sich Union und SPD in den Sondierungen für eine neue Große Koalition, ob der Familiennachzug für Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz weiter ausgesetzt bleiben soll. Am Schicksal der Familie Othman zeigt sich, was das bedeuten kann.

Einen Tag nach dem Unglück vor Chios erfährt Kazem Othman über Verwandte, dass das Boot, das seine Familie nach Europa bringen wollte, Griechenland niemals erreichte. „Ich wollte aus dem Fenster springen“, sagt Othman über diesen Moment.

Jetzt, zwei Jahre später, sagt Kazem Othman in die Stille seines Wohnzimmers hinein: „Vielleicht wurden Alnd und Roder gerettet.“

Von wem?

„Von griechischen Fischern. Das hat ein Mann erzählt.“

Welcher Mann?

„So ein Mann auf Facebook“

Zwei Tage nach dem Unglück meldete sich ein Mann bei Kazem Othman. Mohammad S., ein Freund eines Freundes, ebenfalls aus Syrien und ebenfalls auf der Flucht. Er hatte den Suchaufruf der Othmans auf Face­book gesehen. Die Fotos der verlorenen Kinder und die Angaben zum Unglück. Er habe Alnd und Roder auf Lesbos gesehen, schrieb er. Auf einem Fischerboot im Hafen. Die Kinder seien der griechischen Küstenwache übergeben worden und anschließend in einem Krankenwagen davongefahren. „Wir waren überglücklich“, sagt Kazem Othman.

Nicht alle Toten schaffen es in die Statistik

Später stellte sich heraus: Der Mann hatte sich wohl geirrt. Vielleicht auch einfach gelogen. Irgendwann war er nicht mehr erreichbar. Tiefste Verzweiflung oder das größte Glück auf Erden. Für Familie Othman ist das der Rahmen ihres Lebens. Ein Rahmen, der sie nicht mehr entlässt. Wie soll man ein Kind aufgeben, von dem man nicht weiß, ob es tot ist oder lebendig?

3.119 Tote und Vermisste zählt die Internationale Organisation für Mi­gra­tion für das Jahr 2017 auf dem Mittelmeer. 2016 waren es 5.143, ein Jahr zuvor 3.785. Der Türkei-Deal, die von Deutschland finanzierten Boote der libyschen Küstenwache und die Frontex-Flotte, die die Meerenge zwischen Griechenland und der Türkei nach illegalen Booten durchpflügt, wirken. Die Zahl der Toten geht zurück. Ebenso die Zahl derer, die es über das Mittelmeer schaffen. Zwischen Januar und November 2017 erreichten 164.754 Menschen die EU per Boot. 2016 waren es rund doppelt so viele.

Doch die Zahlen der Ankommenden, das zeigen die Statistiken ebenfalls, steigen in den letzten Monaten langsam wieder an. Die Menschen steigen wieder in die Boote. Trotz EU-Türkei-Deal, trotz der Frontex-Schiffe – und trotz der Gefahr. Nach Angaben der UN starb im Jahr 2015 einer von 1.000 Menschen bei dem Versuch, per Boot von der Türkei nach Griechenland zu gelangen. Auf der zentralen Mittelmeerroute starben zwei von 100.

Vermutlich waren und sind es noch mehr. Nicht alle Tote schaffen es in die Statistik. Wer nicht gesehen wird von Küstenwache, Frontex oder anderen Geflüchteten, wer in Stille stirbt, der stirbt als Unsichtbarer. Manche Körper verschwinden für immer. Manche tauchen Monate später wieder auf. Als anonyme Leichen, die erst mit Hilfe von DNA-Proben identifiziert werden können. Das Meer nimmt und gibt, und wen es behält, der hinterlässt eine Leerstelle. Nicht nur in den Statistiken, auch in den Familien.

„Ich werde Alnd suchen, bis ich sterbe“

Mitte November 2017. Vor genau zwei Jahren und zwei Tagen sind Alnd und Roder verschwunden. Es ist 6 Uhr morgens. Kazem Othman läuft durch die verschlafene Abflughalle des Flughafens Schönefeld in Berlin und sucht sein Gate. Othman will nach Chios. Er will zur Polizei gehen, Hilfsorganisationen besuchen und mit Menschen sprechen, die Alnd und Roder vielleicht gesehen haben könnten. Es ist eine Reise, die Alnd nach Hause bringen soll. „Ich werde Alnd suchen, bis ich sterbe“, sagt Kazem Othman. So lange es Ungewissheit gibt, so lange gibt es Hoffnung. So lange ist Alnd irgendwo am Leben.

Othman ist seit 24 Stunden wach. Am Abend nahm er den Zug von Hannover nach Berlin. Seit sieben Stunden wartet er hier auf seinen Flug nach Athen. Sein blaues Hemd trägt nächtliche Knitter. Seine Wangen graue Stoppel. Seinen blauen Rucksack trägt er in der rechten Hand. Der Rucksack ist flach und leicht. Er reist mit wenig Gepäck. Ein schwarzer Pullover, eine Packung Taschentücher und eine rote Dokumentenmappe. Dokumentation einer zweijährigen Suche, einer Odyssee durch deutsche, griechische, türkische Behörden, Ämter und Organisationen, die in ein paar Tagen endgültig vorbei sein könnte.

Kazem Othmans Deutsch ist nicht sonderlich gut. Er versteht viel, aber er braucht lange, um die richtigen Wörter zu finden. Englisch spricht er nicht. Auch kein Griechisch. Kein Türkisch. Sprachen, die er brauchen würde, um sein Kind zu finden. Jeder Anruf bei einer Behörde, jede E-Mail, jeder Brief muss übersetzt werden, von Freunden oder Verwandten. Manchmal hilft auch Google Translate. Auch für diese Reise brauchte er Hilfe. Bei den Tickets, den Terminabsprachen.

Manchmal übernimmt der Frust bei Kazem Othman. Dann wird er ungeduldig. Früher, in Syrien, war er derjenige, der die Dinge regelte. Familienvater, Geschäftsmann. Heute ist er oft nur noch Beisitzer. Verdammt zum Warten.

Den Inhalt der meisten Dokumente versteht Othman nicht

Kazem Othman ist nicht der Einzige, der nach Alnd sucht. Und diese Reise ist nicht die erste. Kurz nach dem Verschwinden der Kinder reiste der Bruder von Kazem Othman nach Lesbos. Er wollte nachsehen, ob nicht doch etwas dran war an der Geschichte mit den Fischern und den beiden geretteten Kindern. Drei Monate lang suchte er die Insel ab. Mit Fotos der Kinder ging er in Krankenhäuser, in Flüchtlingslager, in Leichenhallen und auf den illegalen Flüchtlingsfriedhof der Insel. Nichts. Auch ein DNA-Abgleich brachte keine Spur. Othman heuerte einen griechischen Anwalt an, schickte ihn in die Türkei und nach Lesbos, um nach Alnd zu suchen.

Alnd und Roder: einfach weg.

Quelle        :     TAZ            >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben    —   Wikipedia – Urheber Kuebi = Armin Kübelbeck

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2.)  von Oben   —    Die griechische Küstenwache bringt Flüchtlinge von einer havarierten Segelyacht an Land. Gerolimenas, Oktober 2016

 

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