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RENTENANGST

Der Schutz des Lebens

Erstellt von Redaktion am Donnerstag 23. September 2021

Corona und der Schutz des Lebens

Mit Corona – ohne Klima sieht die Zukunft aus wie Oben

von Jürgen Habermas

Zur Grundrechtsdebatte in der pandemischen Ausnahmesituation

Seit Beginn der Corona-Pandemie stellt sich demokratisch verfassten Nationalstaaten – als den in erster Linie handlungsfähigen Akteuren – unter rechtsphilosophischen Gesichtspunkten vor allem eine Frage: Welche Pflichten erlegen die Grundsätze einer liberalen Verfassung der Regierung in einer solchen Situation auf und welche Handlungsspielräume haben sie dabei gegenüber ihren Bürgern?

Die durch das Virus Sars-CoV-2 ausgelöste Pandemie ist, wie der Name bereits besagt, ein Naturgeschehen, das sich global ausgebreitet hat, also Leben und Gesundheit von Angehörigen der species homo sapiens überall auf dem Erdball bedroht. Unter biologischen Gesichtspunkten lässt sich die Bekämpfung der Pandemie als eine (freilich mit ungleichen Waffen geführte) Kriegführung von Species gegen Species verstehen. In diesem „Krieg“ gegen das Virus werden dem Gegner allerdings keine Rechte zugeschrieben; daher ist der Vergleich mit der militärischen Auseinandersetzung zwischen Nationen nur von begrenztem Wert. Die beteiligten „Parteien“ bewegen sich nicht in einem geteilten sozialen Raum, beispielsweise dem des Völkerrechts; aber wie im Krieg besteht das strategische Ziel in der möglichst schnellen Bezwingung des Gegners bei möglichst geringen eigenen Verlusten.

Die deutsche Diskussion über den richtigen Kurs der Pandemiebekämpfung wird dabei seit ihrem Beginn durch die Kontroverse zwischen den Verteidigern strikter Vorbeugungsmaßnahmen und den Fürsprechern eines libertären Öffnungskurses beherrscht. Einen interessanten blinden Fleck bilden dabei die Konsequenzen einer unklaren Zielbestimmung der staatlichen Gesundheitspolitik und die unausgetragene rechtsphilosophische Frage, ob der demokratische Rechtsstaat Politiken verfolgen darf, mit denen er vermeidbare Infektions- und Todeszahlen in Kauf nimmt.

Auch wenn die Corona-Rechtsprechung mehr oder weniger im Sinne des strengeren Regierungskurses geurteilt und stillschweigend einen prima facie bestehenden Vorrang des staatlichen Gesundheitsschutzes in der Pandemie berücksichtigt hat, fehlen dafür einstweilen Grundsatzurteile des Bundesverfassungsgerichts mit einer entsprechenden prinzipiellen Rechtfertigung dieses Tenors. Diese Lücke lenkt die Aufmerksamkeit auf die besonderen Aspekte einer derartigen Ausnahmesituation wie der Bekämpfung einer Pandemie. Der Staat ist auf eine ungewöhnliche Kooperation der Bevölkerung angewiesen, die von allen Bürgern starke Einschränkungen, sogar von verschiedenen, ungleich belasteten Gruppen solidarische Leistungen verlangt. Und zwar muss er diese Solidarleistungen schon aus funktionalen Gründen rechtlich erzwingen dürfen.

Die Aporie zwischen Rechtszwang und Solidarität ergibt sich daraus, dass in der Pandemie eine in unserer Verfassung selbst zwischen den beiden tragenden Prinzipien angelegte Spannung aufbricht – zwischen der demokratischen Selbstermächtigung der Staatsbürger zur politischen Verfolgung kollektiver Ziele einerseits und der staatlichen Gewährleistung subjektiver Freiheiten andererseits. Beide Momente ergänzen sich, solange es im Normalzustand um die innere Reproduktion der Gesellschaft geht. Sie geraten aber außer Balance, sobald die außerordentliche kollektive Anstrengung der Abwehr einer „von außen“ das Leben der Bürger bedrohenden Naturgefahr von den Bürgern Solidarleistungen erfordert, die über das üblicherweise bescheidene Maß an Gemeinwohlorientierung hinausgehen.

Die asymmetrische Beanspruchung der Bürgersolidarität auf Kosten gleichmäßig gewährleisteter subjektiver Freiheiten kann durch die Herausforderungen einer Ausnahmesituation gerechtfertigt sein. Legitim ist sie somit immer nur auf Zeit. Wie diese außerordentliche Autorisierung auch ohne weitere Notstandsregelungen rechtsdogmatisch mit dem Grundgesetz in Einklang zu bringen ist, soll am Ende dieser Erörterung stehen.

Sars-CoV-2 als globale Herausforderung für die nationalen Hauptakteure

Trotz der koordinierenden Tätigkeit internationaler Organisationen (wie insbesondere der Weltgesundheitsorganisation) haben sich in der Corona-Pandemie die Nationalstaaten als die eigentlich handlungsfähigen Akteure bewährt. Nur in einer Hinsicht machte die Europäische Union eine bemerkenswerte Ausnahme: Die EU-Kommission hat für die Mitgliedstaaten die Beschaffung und Verteilung des knappen Impfstoffes übernommen und damit wenigstens innerhalb der Grenzens ihres wirtschaftlich insgesamt privilegierten Gebietes das Gefälle verhindert, das sonst bei der Versorgung mit lebensrettenden Medikamenten zwischen wirtschaftlich stärkeren und weniger starken Staaten eingetreten wäre. Im Allgemeinen entschieden jedoch die einzelnen Nationalstaaten selbständig über die Krisenmaßnahmen. Indem sie sich auch gegenseitig beobachteten, haben sie gegen das Virus als den gemeinsamen Gegner jeweils eigene Strategien gewählt. Bis zum Zeitpunkt der – letztlich nur durch Impfung erreichbaren – „Herdenimmunität“ erstrecken sich die strategischen Optionen in diesem Kampf über einen breiten Spielraum. Wenn wir von der Selbstbindung demokratischer Rechtsstaaten absehen, reicht das Spektrum dieser Handlungsalternativen von der Nichtintervention in das natürliche Infektionsgeschehen und der Inkaufnahme hoher Übersterblichkeitsraten auf der einen Seite bis zu strikten Auflagen des nach wissenschaftlicher Einschätzung möglichst effektiven Gesundheitsschutzes der Bevölkerung mit dem Ziel einer möglichst niedrigen Rate der epidemisch verursachten „Übersterblichkeit“ auf der anderen Seite.[1]

Die asymmetrische Beanspruchung der Bürgersolidarität auf Kosten gleichmäßig gewährleisteter subjektiver Freiheiten kann durch die Herausforderungen einer Ausnahmesituation gerechtfertigt sein.

Im internationalen Vergleich zeichnet sich die Coronapolitik der deutschen Regierung(en) durch einen relativ strengen, wenn auch nicht konsequent durchgesetzten Kurs aus. Die von Angela Merkel verfolgte Politik der Bundesregierung konnte sich dabei auf den mehr oder weniger einhelligen Rat der wissenschaftlichen Experten sowie auf die Medienpräsenz einzelner hartnäckiger Fachpolitiker (wie Karl Lauterbach) und einflussreicher Ministerpräsidenten (wie Markus Söder) stützen. Von geringfügigen Schwankungen abgesehen, ist dieser Regierungskurs von einer klaren Bevölkerungsmehrheit unterstützt worden. Allerdings ließ sich die Bundeskanzlerin bei der Verfolgung dieser Linie aufgrund ihres pragmatisch-abwartenden Regierungsstils vom vielstimmigen Einspruch der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten ohne zwingenden Grund zwei Mal bremsen – bis sie schließlich angesichts der drastischen Folgen ihrer Führungsschwäche „die Notbremse“ gezogen hat. Wenn ich die öffentlich zugänglichen Informationen und Einschätzungen richtig deute, hätte eine strenger durchgehaltene Vorbeugung gegen den Ausbruch der zweiten und der dritten „Welle“ der Coronainfektionen sowohl weniger Tote als auch weniger lange anhaltende Kontaktbeschränkungen und damit geringere ökonomische Einbußen erfordert. Ob Regierung und Bevölkerung daraus für die Vermeidung einer vierten Welle gelernt haben, steht dahin.

Wie in anderen Ländern wurde die öffentliche Diskussion auch in der Bundesrepublik von den einschlägigen Themen beherrscht – von der jeweils drohenden Überlastung des Gesundheitssystems, von den vorbeugenden Hygiene- und Schutzmaßnahmen, dem Nachschub an Hilfsmitteln wie Masken, Tests, vor allem von der Entwicklung, Zulassung, Verteilung, kurzum der Verfügbarkeit der Impfstoffe. Eine genuin politische Dimension erhielt die Debatte jedoch erst durch den Streit über die rechtliche Zulässigkeit von Strategien und Maßnahmen im Kampf gegen die Pandemie. Dabei wurden allerdings die kontroversen Hintergrundannahmen, von denen sich die Verteidiger und die Gegner von mehr oder weniger strikten Auflagen haben leiten lassen, nicht deutlich deklariert.

In diesem Zusammenhang kann ich auf ein neues und für die nächste Zukunft ernstlich beunruhigendes Phänomen an dieser Stelle nicht genauer eingehen – ich meine die politisch aggressive und verschwörungstheoretisch begründete Verleugnung der pandemiebedingten Infektions- und Sterberisiken. Wegen ihres rechtsradikalen Kerns sind die scheinliberal begründeten Proteste der Corona-Leugner gegen die vermeintlich konspirativen Maßnahmen einer angeblich autoritären Regierung nicht nur ein Symptom für verdrängte Ängste, sondern Anzeichen für das wachsende Potential eines ganz neuen, in libertären Formen auftretenden Extremismus der Mitte, der uns noch länger beschäftigen wird.[2] In unserem Zusammenhang interessiert mich ein anderer Aspekt, unter dem sich politische Lager im Streit über die richtigen Maßnahmen der Pandemiebekämpfung ausgebildet haben, nämlich die Frage, ob der demokratische Rechtsstaat Politiken verfolgen darf, mit denen er vermeidbare Infektionszahlen und damit auch vermeidbare Todesfälle in Kauf nimmt.

Der Konflikt: Strengere oder laschere Präventivmaßnahmen?

In den Diskussionen über die geeigneten Strategien der staatlichen Gesundheitspolitik war von Anbeginn die Kritik der Wirtschaftsverbände und der FDP an der Erforderlichkeit und Eignung der restriktiven Vorbeugungsmaßnahmen bestimmend für die Profilierung gegensätzlicher politischer Lager.

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Natürlich kamen im Streit über die Wahl zwischen lascheren oder strengeren Präventivmaßnahmen zu Recht auch andere Interessen zur Sprache – das breite Spektrum von Belastungen der besonders betroffenen Bevölkerungsgruppen von körperlich und psychisch gefährdeten Kindern, Alten und Vorerkrankten, von Schülern und Eltern, von Berufen, die einem besonderen Risiko ausgesetzt sind usw. Die vielstimmigen Einwände und Alternativvorschläge hätten klare normative Maßstäbe verlangt, anhand derer ihr Gewicht beurteilt werden kann. Tatsächlich aber ist die öffentliche Diskussion zum verfassungsrechtlichen Kern dieser durchaus verständlichen Kontroversen nicht wirklich vorgedrungen. Während sich die Verteidiger eines strengen Regierungskurses auf die Pflicht des Staates zum Gesundheitsschutz der Bevölkerung und den Rat der medizinischen Experten beriefen, haben die Fürsprecher der Lockerungslobby unter Berufung auf den öffentlichen Rat juristischer Experten die grundrechtlich geschützten subjektiven Freiheiten der Bürger gegen angeblich unnötige oder unverhältnismäßige Eingriffe des Staates eingeklagt.

Mich interessiert die Frage, ob die Prämisse dieser lautstarken Polemik stimmt; denn in der öffentlichen Diskussion stützte sich die Kritik auf die Annahme, dass es sich auch unter Bedingungen der Pandemie um eine ganz normale Abwägung des Rechts auf Leben gegen jene konkurrierenden Grundrechte handelt, in die ja die Maßnahmen des staatlichen Gesundheitsschutzes tatsächlich tief eingreifen. Interessanterweise sind in den ermüdenden Talkshows über die immer wieder gleichen Corona-Themen zwei grundsätzliche Fragen nicht ausdrücklich zur Sprache gekommen, die den politischen Streit erst ins rechte Licht gerückt hätten – nämlich weder die Frage nach der eindeutigen Zielbestimmung der staatlichen Gesundheitspolitik noch die Frage nach dem Gewicht der medizinischen Expertise unter dem rechtlich relevanten Aspekt der Ausnahmesituation einer solchen Gesundheitskatastrophe.

Welches Ziel hat der staatliche Gesundheitsschutz?

Das Bundesverfassungsgericht sieht zwar das Ziel der staatlichen Pandemiebekämpfung beiläufig darin, die Zahl der an Corona Infizierten und, davon abhängig, die Zahl der an Corona Gestorbenen so gering wie möglich zu halten. Aber in der politischen Öffentlichkeit ist dieses Ziel bestenfalls im Zusammenhang mit der konkreten Aufgabe erwähnt worden, die Behandlungskapazitäten der Krankenhäuser nicht zu überlasten. Diese Belastbarkeit des Gesundheitssystems wird bis heute stillschweigend als die „rote Linie“ akzeptiert, die nicht überschritten werden darf und die auf diese Weise zur Rechtfertigung hygienischer Einschränkungen dient. Demgegenüber ist die Frage, ob sich diese Zielbestimmung zur Operationalisierung der eigentlichen Aufgabe, nämlich die Todesfälle infolge von Corona-Infektionen zu minimieren, überhaupt eignet, nicht thematisiert worden.

Das Ziel, die Rate der auf Corona zurückzuführenden „Übersterblichkeit“ der Bevölkerung so niedrig wie möglich zu halten, deckt sich ja keineswegs mit dem Ziel zu verhindern, dass die Zahl der schwer erkrankten und behandlungsbedürftigen Corona-Patienten die Grenze der vorhandenen Betten und Beatmungsgeräte überschreitet. Das aber bedeutet faktisch eine Verschiebung der Zielbestimmung, mit der die eigentlich entscheidende Frage aus der politischen Öffentlichkeit verdrängt worden ist: ob denn ein demokratischer Verfassungsstaat bei der Verfolgung des Ziels der Pandemiebekämpfung überhaupt das Recht hat, Politiken zu wählen, mit denen er die vermeidbare Steigerung von Infektionszahlen und damit der wahrscheinlichen Anzahl von Sterbefällen stillschweigend in Kauf nimmt. Es bedarf jedenfalls keiner großen Phantasie, um sich vorzustellen, wie öffentliche Diskussionen verlaufen wären, wenn diese Frage in den zahllosen Fernsehdebatten verhandelt und in der Presse nicht nur vereinzelt aufgenommen worden wäre.[3]

Eine Herabstufung des Ziels der staatlichen Gesundheitspolitik von der Minimierung der Infektionszahlen auf die Sicherung von Behandlungskapazitäten gewährt der Abwägungspraxis der Gerichte einen größeren Spielraum.[4] Wenn sich die Erforderlichkeit einer staatlichen Präventivmaßnahme auf das weitgesteckte Ziel bezieht, die Infektionszahlen zu minimieren, sind nicht nur strengere Verhaltensvorschriften und Auflagen gerechtfertigt als bei dem weniger anspruchsvollen Ziel, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Vielmehr drängt sich beim Vergleich dieser Ziele auch jene Grundsatzfrage auf, die tatsächlich im Hintergrund geblieben ist: ob die Verfassung eines demokratischen Rechtsstaats die Regierung im Hinblick auf das Minimierungsziel dazu verpflichtet, die Zahl der an Corona Verstorbenen so niedrig wie möglich zu halten.

File:Corona Lockdown.svg

Nur wenn diese Verpflichtung nicht besteht, gewinnt die Regierung mit der Inkaufnahme einer vorhersehbaren Zahl grundsätzlich vermeidbarer Todesfälle auch einen gewissen Spielraum für die Berücksichtigung anderer konkurrierender Rechtsansprüche. Denn die alternativen Zielbestimmungen stellen auch die Weichen für die gerichtliche Kontrolle staatlich verordneter Einschränkungen.[5] Sobald das Gericht die Erforderlichkeit einer Maßnahme mit Bezug auf das anspruchsvolle Minimierungsziel prüft, könnte es den Vorrang dieser Maßnahme nur gegen andernorts und anderweitig Leben gefährdende Nebenwirkungen „aufrechnen“, aber nicht gegenüber Ansprüchen aus konkurrierenden Grundrechten abwägen. Vielmehr würde sich die Abwägungspraxis dann im Wesentlichen auf die Einschätzung der Geeignetheit der kontroversen Maßnahme für das von vornherein als erforderlich anerkannte Ziel beschränken müssen. Diese strengere Zielbestimmung würde für die Corona-Rechtsprechung auf einen Prima-facie-Vorrang des Rechts auf Leben und Gesundheit vor allen übrigen Grundrechten hinauslaufen – auf einen Vorrang, den die Abwägungspraxis der Gerichte in normalen Zeiten nicht kennt. Aus diesem Grunde wollen manche Verfassungsrechtler in der Pandemie keine rechtlich relevante Ausnahmesituation erkennen; sie plädieren dafür, dem Recht auf Leben nur bei Gefahr der Überschreitung der roten Linie der Auslastung vorhandener Behandlungskapazitäten einen solchen Vorrang einzuräumen.

Quelle       :            Blätter-online        >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Satirische spanische Darstellung Ende September 1918: der Soldado de Nápoles liest in der Zeitung vom gutartigen Charakter der Krankheit und gleichzeitig, dass der Platz auf den Friedhöfen ausgeht

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