DER ROTE FADEN
Erstellt von DL-Redaktion am Sonntag 26. Mai 2019
Wann lässt sich die Welt wieder ein paar Eier wachsen?
Durch die Woche mit Ariane Lemme
Ach, es war schon wieder eine Woche des Jammers. Um von hinten anzufangen: Judith Kerr ist tot. Ja, sie war alt, 95 Jahre, und dem heiteren Grundton nach zu schließen, der ihre Interviews durchzieht, waren es – trotz allem, trotz Exils und des Selbstmords beider Eltern – nicht nur schlechte 95 Jahre.
Traurig bin ich trotzdem. Kaum ein Buch, drei sind es eigentlich, hat mich so geprägt wie „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ und die beiden Folgeromane „Warten bis der Frieden kommt“ und „Eine Art Familientreffen“. Weil sie mir die deutsche Geschichte greifbar und (nach-)fühlbar gemacht haben und ich alles, was ich später, als ich älter wurde, über den Nationalsozialismus, über Flucht, Vertreibung und Vernichtung gelesen habe, mit diesem Mit-Fühlen ergänzen konnte. Ja, musste. Es wurde ein Anker im Angesicht des Unbegreifbaren. Noch heute zitieren Freundinnen und ich das „Rosa Kaninchen“, es ist ein Leuchtturm in unseren eigenen Geschichten.
Umso mehr haben mich die zwar beflissenen und freundlichen, aber irgendwie blutarmen Nachrufe in vielen deutschen Medien befremdet. Es wird meist viel zitiert und nacherzählt, aber eigene Bezüge zu Kerr, gar Berührtheit, habe ich nicht entdeckt. Stattdessen tänzeln die meisten ziemlich hasenfüßig durch ein paar steif formulierte Sätze. Das ist natürlich kein journalistisches Verbrechen, man findet nicht zu allem denselben Zugang. Vielleicht ist es mir überhaupt nur deshalb aufgefallen, weil man ja immer ein bisschen davon ausgeht, dass alle anderen die eigenen Helden genau so lieben wie man selbst. Genug gejammert, das hätte Judith Kerr nämlich auch nicht getan.
Andere sind hingegen ziemlich gut im Jammern, das hat diese Woche mal wieder gezeigt. Das grellste Greinen kam natürlich aus Österreich, von der FPÖ. Statt sich nach der Doppel-und Dreifach-Schmach – der eigenen Korruptheit überführt werden, durch das Tapsen in eine lächerliche Falle und das auch noch mit denkbar schlechter, weil bierseliger Haltungsnote – für immer murmeltiergleich in eine Alpenhöhle zurückzuziehen, inszeniert man sich hübsch als Opfer. Von wem? Weiß man nicht. Nur ÖVP-Kanzler Kurz tut so, als wüsste er was, zumindest lässt keine Gelegenheit aus, mit dem Finger auf den Lieblingsfeind zu zeigen und so antisemitische Verschwörungstheorien zu verbreiten. Mehrmals hat er betont, dass der israelische PR-Berater Tal Silberstein hinter dem Video stecken könnte. Andere bemühten gleich den Mossad. Jung sein heißt eben auch nicht immer, frisch im Kopf zu sein.
Quelle : TAZ >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs