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DER ROTE FADEN

Erstellt von Redaktion am Sonntag 6. Januar 2019

Dateiexistenzkrise und die Zeitlichkeit der Hyazinthen

Roter Faden Hannover rote Zusatzmarkierung.jpg

Durch die Woche mit Johanna Roth

I ch bedaure sehr, Ihnen das mitteilen zu müssen, aber Sie genießen gerade keinen druckfrischen Qualitätsjournalismus zu Ihrem Morgenkaffee. Sondern Konservenfutter. Denn genau diese Kolumne habe ich schon mal geschrieben. Sagt zumindest mein Computer, und der muss es ja wissen. Als ich das Dokument anlegen wollte, hübsch ordentlich verschlagwortet unter „Roter Faden Januar“, gab er nur ein unwilliges Quäken von sich: „Die Datei existiert bereits. Wollen Sie sie ersetzen?“ Wasneinhähilfewassolldasdennjetztverdammt! Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich darauf kam, dass es sich bei dieser Datei um die Januarkolumne vom letzten Jahr handeln musste, und während dieser wenigen Augenblicke durchlebte ich eine handfeste Existenzkrise.

Wieso ist die Kolumne schon da, wenn ich sie noch gar nicht geschrieben habe? Oder habe ich sie schon geschrieben und es dann wieder vergessen? Falls dem so ist, schiebe ich es auf die Post-Urlaubs-Müdigkeit, oder sollte ich mich doch auf die Suche nach ernster zu nehmenden Ursachen machen? Und gibt es einen Zusammenhang damit, dass dieser Freitag schon maximal blöd anfing, indem ich mir zunächst den Ärmel des neuen Pullovers am Fensterrahmen aufriss, anschließend mein iPhone den x-ten todesmutigen Sprung aus meiner Hand dann doch nicht mehr überlebte, woraufhin sein Display in viele spitze Teile zersplitterte und ich schließlich 65 Euro bezahlte für einen neuen Reisepass, mit dem ich nirgendwo werde einreisen dürfen, es sei denn, ich finde einen hilfsbereiten Golden Retriever, den ich mir bei der Passkontrolle mal kurz vors Gesicht halten kann, um der Frisur und der Miene der Abgebildeten einigermaßen nahe zu kommen?

Es ergibt natürlich alles insofern Sinn, als am heutigen Samstag die Pariser Uraufführung von „En attendant Godot“ genau 65 Jahre her ist. So viele schöne Metaphern hatte der alte Beckett für unser Auf-der-Stelle-Treten-in-der-Überzeugung-sich-zu-bewegen. Was für ein gemeines kleines Biest die Zeit doch ist, zeigt sie ja nicht zuletzt jedes Neujahr wieder, denn wir mögen auf dem Mond landen (und die Chinesen seit ein paar Tagen auch auf seiner Rückseite), aber unsere Zeitlichkeit, die bleibt, und die Erde gondelt unbeirrt in 365 Tagen um die Sonne. Es ist also alles schon mal da gewesen, jedes Jahr beginnt mit einem Januar, und der hat einzig und allein den Vorteil, dass überall Hyazinthen verkauft werden, die mit ihren knautschig weichen Blüten und einem Duft, für den Coco Chanel gemordet hätte, wenigstens kurz eine Illusion von Frühling erzeugen. Leider haben auch sie ein ganz besonderes Verhältnis zur Zeitlichkeit, es beträgt, übertragen auf die jeweilige Dauer der Blütenpracht und des eher unspektakulären Wegs dorthin, etwa 1 zu 25.000. Aber der kurze Moment, der lohnt sich.

Quelle     :         TAZ       >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen    :

Oben    —    Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

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